Der Duft
Kopf. Sie musste unbedingt etwas unternehmen, um diese unbegründete Angst loszuwerden.
Die U-Bahn fuhr ein. Marie betrat den Wagen hinter dem älteren Ehepaar. Der Mann nahm den nächsten Waggon.
Einem spontanen, irrationalen Impuls folgend stieg Marie im letzten Moment wieder aus. Die U-Bahn setzte sich in Bewegung.
Sie sah den Mann am Fenster sitzen, und ihre Blicke trafen sich kurz. Wenn er erstaunt darüber war, dass sie immer noch am
Bahnsteig stand, ließ er es nicht erkennen.
Endlich fuhr die nächste U-Bahn ein. Marie fand einen Platz am Fenster. Jedes Mal, wenn die Bahn hielt, beobachtete sie die
Menschen, die einstiegen, aber der Mann im dunklen Mantel war nicht dabei.
Natürlich nicht.
Als sie ihr Apartment erreichte, fühlte sie sich besser. Doch als sie die Tür öffnete, kehrte die Angst augenblicklich zurück.
Jemand ist hier gewesen, schoss es ihr durch den Kopf. Zögernd trat sie ein und sah sich um. Alles schien so, wie sie es verlassen
hatte. Und doch war da das |379| starke Gefühl, dass jemand in ihrer Abwesenheit in der Wohnung gewesen war, sie vielleicht durchsucht hatte.
Sie begann, das Apartment systematisch nach Anzeichen dafür abzusuchen. Die Blusen im Schrank lagen etwas unordentlich. Hatte
ihre Sorgfalt beim Einräumen der Wäsche nachgelassen, oder hatte da jemand etwas gesucht? Die Hängeordner in dem Schubladenelement
neben ihrem Schreibtisch waren in der richtigen Reihenfolge. Sie nahm einen heraus und blätterte fahrig durch die Unterlagen
– Rechnungen für die Steuererklärung. Aber ein Einbrecher hätte sich wohl kaum für die Steuerbelege interessiert.
Im Kühlschrank fand sie verdorbenen Joghurt, sonst war nichts Ungewöhnliches festzustellen. Es gab nicht den geringsten Hinweis,
dass Ihre Sorge begründet war.
Sie setzte sich auf ihr Sofa und presste die Hände an die Schläfen. Du musst hier weg, schrie die Stimme in ihrem Kopf. Sie
sind hinter dir her. Wenn du hier bleibst, werden sie dich erwischen.
Verdammt, was konnte sie nur tun, damit die Stimme verstummte? Sie wollte nicht wie ihre Mutter enden! Sie brauchte professionelle
Hilfe. Sie stand auf, um das Telefonbuch zu holen und die Nummer der psychiatrischen Abteilung der Charité herauszusuchen.
Dabei fiel ihr Blick auf den Flügel.
Sie hielt inne, sah genauer hin. Dann näherte sie sich langsam dem Instrument, als könne sie es mit einer unbedachten Bewegung
zur Flucht veranlassen. Auf dem schwarzen, polierten Lack lag eine dünne, kaum sichtbare Staubschicht. Doch auf der Tastaturabdeckung
waren einige dunkle Streifen zu sehen, an denen der Staub verwischt war. Sie kniete sich davor auf den Boden und inspizierte
die Stelle ganz genau. Kein Zweifel – jemand hatte vor Kurzem den Klavierdeckel geöffnet.
|380| Marie wurde eiskalt. Sie hatte das Instrument seit Monaten nicht berührt.
Sie hob die Abdeckung an. Die Tasten lagen friedlich da und warteten auf die Berührung durch ihre geschulten Hände. Sie schlug
ein A an. Der Klang schwebte durch den Raum, seltsam laut in der Stille. Beinahe erschrocken klappte sie den Deckel wieder
zu.
Fieberhaft überlegte sie, was sie tun sollte. Wer auch immer hier gewesen war, hatte möglicherweise Wanzen oder sogar Minikameras
angebracht. Wahrscheinlich wussten sie bereits, dass sie Verdacht geschöpft hatte. Vermutlich beobachteten sie auch das Haus.
So ruhig wie möglich holte sie einen langen Mantel und ein Seidentuch aus dem Kleiderschrank und packte eine dunkle Sonnenbrille
und ein paar Toilettenutensilien in eine Handtasche. Dann verließ sie mit klopfendem Herzen die Wohnung. Im Treppenhaus zog
sie den Mantel an, setzte die Sonnenbrille auf und band sich das Seidentuch um den Kopf. So verhüllt trat sie auf die Straße.
Der Himmel war wolkenverhangen, und niemand trug eine Sonnenbrille. Sie fühlte sich schrecklich auffällig, doch sie wagte
nicht, die Brille abzunehmen.
Sie hatte keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte. Da war nur das überwältigende Verlangen, irgendwo unterzutauchen, sich
zu verstecken. Wer konnte hinter ihr her sein? Ondomars Leute? Oder gab es tatsächlich noch jemand anderen, der das Pheromon
eingesetzt hatte? Auf jeden Fall befand sie sich in großer Gefahr. Zu ihrem Vater konnte sie nicht – sie würde ihn und Irene
nur unnötig mit in die Sache hineinziehen. Wahrscheinlich war es das Beste, für ein paar Tage irgendwo in einem Hotel unterzutauchen.
Von dort konnte sie Jack
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