Der Duft
einer Wand aus hohen Farnen fiel der Hang steil ab. Sie stürzte, überschlug
sich ein paar Mal. Der Revolver glitt ihr aus der |20| Hand. Sie rollte seitwärts den Abhang hinunter und schlug schließlich mit dem Kopf hart gegen einen großen Brocken aus verwittertem
Basalt, der aus den Farnen aufragte. Sie hörte einen triumphierenden Schrei hoch über sich. Dann wurde es dunkel um sie.
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|22| 1.
Das neue Projekt begann mit einem Chaos. Als Marie Escher pünktlich um halb sieben am Flughafen Berlin-Tegel eintraf, wurde
ihr sorgfältig geplanter Tagesablauf über den Haufen geworfen. Ein Systemabsturz in Frankfurt hatte dafür gesorgt, dass die
Anzeigetafeln in leuchtendem Gelb massenhaft Verspätungen und Flugausfälle verkündeten. Der Flughafen war überfüllt mit Geschäftsleuten
in dunklen Anzügen, die mit ihren Reisetrolleys im Schlepp ratlos durch die Gänge irrten oder in langen Schlangen vor den
Informationsschaltern ausharrten.
Na schön. Marie hätte nicht kurz davor gestanden, als erste Frau zum Partner der Unternehmensberatung Copeland &
Company gewählt zu werden, wenn sie nicht in der Lage gewesen wäre, mit solchen Schwierigkeiten umzugehen. Der Termin mit
ihrem neuen Klienten Daniel Borlandt, dem Vorstandschef der Oppenheim Pharma AG in Frankfurt, war erst um 14.00 Uhr.
Sie ging in die überfüllte »Senator Lounge« für besonders gute Lufthansa-Kunden, um sich dort über die Situation zu informieren.
Die Frau am Empfang hatte dieselben schulterlangen, pechschwarzen Haare wie Marie, jedoch nicht ihren sehr hellen Teint, der
ihr als Kind den Spitznamen »Schneewittchen« eingetragen hatte. Mit einem professionellen Lächeln verkündete sie, die Maschine
habe etwa eine Stunde Verspätung.
Marie wog ihre Alternativen ab. Wie sie die Lufthansa kannte, konnten aus der einen Stunde Verspätung leicht zwei oder drei
werden, oder die Maschine wurde ganz gestrichen. Besser, sie setzte auf Sicherheit und nahm den ICE.
|23| Auch der Zug hatte fast eine Stunde Verspätung, und so kam sie erst knapp vor dem Treffen in Frankfurt an. Ihr Teamkollege
Konstantin Stavras empfing sie am Haupteingang der Firmenzentrale. Er war hochgewachsen und sehr schlank, mit buschigen Augenbrauen
und stark abstehenden Ohren. Er hatte ein warmes, freundliches Lächeln aufgesetzt.
Auch Marie freute sich, ihn zu sehen. Sie hatte bisher noch kein gemeinsames Projekt mit ihm gehabt, aber Konstantin galt
als brillanter Analytiker und sehr gewissenhafter Berater. Er war mit dem Auto aus Düsseldorf gekommen und hatte nicht mehr
als den einkalkulierten einstündigen Stau auf der A3 bei Köln erlebt, sodass er als einziges Teammitglied pünktlich um 10.00
Uhr eingetroffen war.
»Will kann nicht kommen«, sagte Konstantin. »Alle Flüge von London nach Frankfurt sind gestrichen worden.«
Will Bittner war der für den Kunden Oppenheim AG verantwortliche Partner bei Copeland und auf diesem Projekt Maries Vorgesetzter.
Normalerweise hätte er also das Gespräch mit Borlandt geführt. Nun musste Marie diesen Part übernehmen, aber sie hatte bereits
mit dieser Möglichkeit gerechnet und sich auf der Zugfahrt darauf vorbereitet.
»Was ist mit Rico Kemper?«, fragte sie.
»Der ist vor einer Viertelstunde gelandet und sitzt im Taxi. Müsste gleich da sein.«
Konstantin führte sie in einen Konferenzraum auf der Vorstandsetage im vierten Stock des schmucklosen Verwaltungsbaus, den
man ihnen für den Tag zur Verfügung gestellt hatte. Aus dem Fenster sah man mehrere zweistöckige Gebäude mit Labors und Büros
sowie zwei langgezogene Hallen, in denen vermutlich Produktionsanlagen und Lagerräume untergebracht waren. Trotz einiger Bäume |24| und Grünstreifen wirkte die ganze Anlage grau und unansehnlich. Ein undefinierbarer, leicht unangenehmer Geruch wehte von
draußen herein. Marie war sich nicht sicher, ob er vom Werk der Oppenheim AG oder den benachbarten Industrieanlagen herrührte.
»Ich hab uns schon mal Kaffee organisiert«, sagte Konstantin und schenkte ihr auf ihr Nicken hin eine Tasse ein.
In diesem Moment betrat Rico den Teamraum. Er hatte ein fein geschnittenes, sonnengebräuntes Gesicht und sorgfältig manikürte
Hände. Marie kannte ihn von einem gemeinsamen Training und war von seiner leicht arroganten Ausstrahlung irritiert gewesen.
Aber er hatte einen guten Ruf in der Firma, da er bereits zwei Folgeprojekte akquiriert hatte, und stand kurz vor der Beförderung
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