Der Duke, der mich verführte
Zustand, so wusste Radcliff, war nicht allein der frühen Stunde geschuldet.
Er drehte sich um, versagte es sich schweren Herzens, sich Justine aufzudrängen. Es wäre ihm unerträglich, sollten seine Avancen ihr widerlich werden. Zumal nun, da alles sich so prächtig entwickelte.
Die kühle Morgenluft strich über seinen bloßen Leib, als er auf leisen Sohlen zur Tür ging. Vorsichtig hob er seinen Morgenrock auf, versuchte, jedes Knarren der Dielen zu vermeiden, und drehte lautlos den Knauf. Noch einmal erlaubte er sich einen Blick zurück, auf die unter der warmen Bettdecke verborgenen weichen Rundungen. Justines nackter Arm lag lang ausgestreckt, ihre kastanienbraunen Locken ergossen sich auf das Kissen.
Vorsichtig schlich er sich auf den dunklen Korridor hinaus, schloss die Tür hinter sich. Draußen blieb er einen Moment stehen und blickte mit bebender Brust hinüber zu Matildas Bildnis.
Nein. Das sollte er nicht tun. Er sollte es abhängen. Sofort. Er wandte sich ab, zögerte dann, fasste kurzerhand in seinen Morgenrock und packte, was ihn die letzten Stunden gequält hatte. Obwohl ihm im Grunde seines Herzens klar war, dass es falsch war und er das Versprechen brach, das er Justine gegeben hatte, war es ihm doch lieber, sie auf diese Weise zu enttäuschen, als dass sie begann, ihn zu fürchten und von seinen Avancen abgestoßen zu sein. Avancen, von denen er wusste, dass er sie nicht würde zügeln können, ohne Justine schamlos auszunutzen und möglicherweise nachhaltig zu verstören.
Die Augen noch geschlossen, rekelte Justine sich in den Kissen und streckte schlaftrunken die Hand nach Radcliff aus, wollte ihn an sich ziehen, seine Wärme spüren. Aber da war keine Wärme. Sie zog die Decke fester um sich und machte die Augen auf.
Die roten Bettvorhänge waren geöffnet, ebenso die dazu passenden Draperien der Fenster. Der prächtige Sternenhimmel war grauen Wolken gewichen.
Und dort, in einem Sessel am Fenster, saß auch Radcliff, vollständig angekleidet in einem taubengrauen Anzug. Er saß vornübergebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Stirn in Falten gelegt und allem Anschein nach tief in Gedanken versunken.
Lautlos richtete sie sich auf, und was musste sie sehen? Er las doch allen Ernstes in ihrer Benimmfibel! Das unsägliche Wie man einen Skandal vermeidet, das sie gestern Abend, als er zu ihr gekommen war, so achtlos beiseitegeworfen hatte.
Bedächtig neigte sie den Kopf zur Seite und beobachtete Radcliff beim Lesen. Ob er den Inhalt des Werkes wirklich so interessant fand?
Schließlich raffte sie die Decke um sich und flüsterte: „Guten Morgen.“
Er blickte auf, klappte rasch das kleine rote Buch zu und räusperte sich. „Der Morgen ist längst vorbei. Es ist zwei Uhr mittags.“
„Tatsächlich?“ Sie krauste die Nase. „Warum hast du mich nicht eher geweckt?“
„Du brauchtest ganz offensichtlich deinen Schlaf.“
Neugierig musterte sie ihn. „Hast du gerade meine Benimmfibel gelesen?“
Er schnaubte. „Ich habe es versucht. Herrje, was ihr armen Frauen alles auf euch nehmen müsst! Wäre ich als Frau zur Welt gekommen, wäre ich längst tot.“
Justine stutzte, hielt kurz inne und überlegte dann, ob nicht ihre kleine Benimmfibel ihm helfen könnte, seine Obsession in den Griff zu bekommen. Immerhin enthielt sie etliche gute Ratschläge – abgesehen davon, dass darin kaum etwas darüber zu finden war, was sich letzte Nacht hier in diesem Schlafgemach zugetragen hatte. Doch vielleicht …
Er hielt das Büchlein hoch und wedelte damit in ihre Richtung. „Warst du gezwungen, es zu lesen? Oder hast du es freiwillig getan?“
Unschlüssig blickte sie ihn an. Wie könnte sie ihm ihre Idee unterbreiten, ohne ihn in seinem männlichen Stolz zu kränken? „Beides. Ich habe es ganze acht Mal gelesen.“
Ungläubig hob er die Brauen. „ Acht Mal? Aber wozu? Hat einmal nicht genügt?“
„Als ich nach London kam, hat mir dieses Buch geholfen zu begreifen, welche Anforderungen ich zu erfüllen habe, um in der Gesellschaft bestehen zu können. Obwohl ich eine sehr zivilisierte Erziehung genossen habe – mit einer Gouvernante, Hauslehrern und täglichen Lektionen in Geschichte, Musik, Tanz, Französisch und Italienisch –, so fand doch alles in Zelten und Strohhütten statt, die wie umgedrehte Weidenkörbe aussahen. Meine Spielkameraden waren weder weiß noch adelig. Ich habe mit kleinen Eingeborenenkindern gespielt, für die ich so etwas wie eine exotische Frucht
Weitere Kostenlose Bücher