Der Dunkle Code
versuchen, um sein Problem zu lösen. Und das bedeutete mehr Zeit für Niko und Aaro. Allerdings wusste Aaro, dass er sich auf sehr dünnem Eis befand. Sobald der Deutsche merkte, dass er ihm nicht helfen konnte, war das Spiel aus.
Er folgte Gruber ins Nebenzimmer. Die Antiquitätenhändler würden bis aufs Blut darum kämpfen, im Todesfall diesen Nachlass an sich zu bringen, dachte Aaro: dunkle, antike Stühle, die Sitzflächen aus weinrotem Samt, Tapeten mit goldenen und braunen Ornamenten, schwere, moosgrüne Vorhänge, Lampenständer aus mattem Nussbaumholz und abgetretene Orientteppiche. Der Mann, der ihn gefangen hielt, war nicht knapp bei Kasse, aber Aaro hatte das Gefühl, dass er leidenschaftlich nach noch mehr Reichtümern suchte.
In der Ecke, auf einem alten Eichentisch mit grüner Stoffauflage, stand ein iMac von Apple. Es war ein älteres Modell, sah aber fast unbenutzt aus. Gruber schien nicht ganz auf der Höhe zu sein, was die IT-Front anbelangte.
»Gut«, sagte Aaro mit fester Stimme, als er vor den Apple trat. »Dann bringen wir die Mühle mal zum Laufen. Haben Sie einen DSL-Anschluss?«
»Eine Firma hat das Gerät angeschlossen, ich interessiere mich nicht für solche Abkürzungen.«
Aaro kannte das. Er hatte einigen älteren Verwandten in Computerangelegenheiten geholfen und war dabei auf die gleiche Einstellung gestoßen: eine Mischung aus Stolz, Verwirrung und Unsicherheit.
Mit pochendem Herzen schaltete er den Computer ein, blickte unter den Tisch und sah dort zu seiner Erleichterung ein Ethernet-Modem. »Wie es aussieht, haben Sie ein Breitbandmodem.«
Er warf einen Blick zur Tür, wo Niko und der unangenehme Mann mit der Pistole standen. Es gab keinen Zweifel daran, dass der Gorilla fähig wäre, die Waffe zu benutzen. Er schien sich eine kleine Schießerei sogar zu wünschen, um ein bisschen Druck abzulassen.
Der Computer fuhr innerhalb weniger Sekunden hoch. Nie zuvor war Aaro das Bild des angebissenen Apfels auf dem Monitor vertrauter und willkommener gewesen. Jetzt wäre auch wirklich nicht der richtige Moment, mit dem ewig abstürzenden Windows zu kämpfen.
»Wird’s bald?«, drängte der Deutsche mit barscher Stimme, die Aaros Finger auf der Tastatur in Schwung brachte.
27
Dietrich Gruber sah zu, wie die Finger des Jungen über die Tastatur flitzten; fast wie die Finger seiner Mutter Gertrud auf dem Klavier, wenn sie Schuberts Erlkönig spielte, die Vertonung von Goethes düsterem Gedicht. Der plötzliche Gedanke an seine Mutter löste Rührung in ihm aus. Er tastete nach den ersten Zeilen des Gedichts, das er als Kind auswendig gelernt hatte: Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind! Die folgenden Verse führten die Ballade zur den hinterhältigen Lockungen des Erlkönigs und schließlich zum Tod des fieberkranken Kindes.
Dietrich verdrängte die wirr umherschießenden Gedanken und wandte sich wieder dem eigentlichen Thema zu. Er hatte sich selbst schon überlegt, ob sich im Internet Hilfe bei der Entschlüsselung des Codes finden ließe, aber nicht gewusst, wen er danach hätte fragen können, ohne sich zu verraten. Außerdem waren Goethe, Wagner und Wittgenstein ohne Computer ausgekommen, ganz zu schweigen von den großen deutschen Mathematikern.
»Was tut der da?«, fragte Achim von der Tür aus.
»Stör uns nicht«, fuhr Dietrich ihn an. Aus dem Augenwinkel sah er Achims angespannte Miene, aber er hatte jetzt keine Zeit, seinen Gehilfen zu besänftigen. Der Junge hatte vielleicht recht – für das Öffnen des Codes brauchte man genügend Kapazität: Kraft, mit der man die Zahlen aufbrechen konnte. Schließlich war das Enigma-Geheimschriftgerät, das im Krieg benutzt worden war, eine geniale Maschine gewesen.
»Geben Sie mir den Code, dann fangen wir an«, sagte der Junge.
Dietrich hielt ihm das Blatt hin, auf das er die Kombination geschrieben hatte: 16186C152 423DHEG.
»Möglicherweise ist es ein Problem, dass die Sprache des Codes Deutsch ist«, sagte der Junge. »Weil die Seite hier nur Englisch kann. Aber vielleicht steckt hinter dem Code nichts Sprachsensibles, sondern ein Name oder so.«
»Ich vermute, es wird eine Ortsbezeichnung sein«, sagte Dietrich. Er hielt es für das Beste, ein bisschen von der Wahrheit zu lüften, denn er merkte: Dumm war der Bengel nicht – worauf er seltsam stolz zu sein schien. Er tippte den Code in ein Feld und klickte auf den Pfeil daneben.
Die Sekunden verstrichen. Aaros Herz
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