Der Dunkle Code
ihm schwer. Aaro richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Gruber, der am Schreibtisch saß und arbeitete. Seitdem er das Fünf-Minuten-Ultimatum gestellt hatte, saß der Mann am Tisch und konzentrierte sich auf seine Bücher und Unterlagen, als hätte er mit einem Problem zu kämpfen, demgegenüber alle anderen Ereignisse zweitrangig oder gar unerwünschte Störfaktoren waren.
Gruber war sicher schon über sechzig, schätzte Aaro, aber körperlich eindeutig gut in Form. Seine Hände waren schmal, die hohe Stirn hatte Falten und die flinken Augen verrieten Intelligenz. Er war ein ganz anderer Typ als der breitschultrige Hormonhengst, der mit der Pistole herumfuchtelte und in der Gegend herumstand wie ein Filmheld. Der ältere Mann hatte etwas Hartes, nicht unbedingt Kriminelles, aber irgendwie Unerklärliches an sich. Wäre dieser Mann wirklich fähig, ihn und Niko wie Insekten zu beseitigen, wenn sie ihn in seinem Vorhaben behinderten?
Dietrich Gruber ließ sich kein bisschen anmerken, dass er Nikos und Achims Eintreten wahrgenommen hatte. Der Gorilla war das Verhalten seines Chefs offenbar gewöhnt, er bedeutete Niko, sich auf einen Stuhl zu setzen, und blieb selbst wachsam stehen. Dabei achtete er darauf, dass weder die Pistole noch die Rolex verborgen blieb.
Aaro hatte Niko noch nie so geschockt gesehen. Der Freund schwitzte, in seinen Haaren hingen Fichtennadeln und er schien jeden Moment in Ohnmacht zu fallen. Seine Angst steckte Aaro an, dessen Blick über die Bücher auf dem Schreibtisch sprang: Bücher über mathematische Probleme, alte Mythologie … Was für einem Phänomen war der Mann auf der Spur? Was war das für ein Code auf dem Stück Stoff? Und warum war er so kindisch leicht?
»Bring sie in den Keller. Du weißt, was du zu tun hast«, sagte Gruber zu Achim, der Niko prompt ein Zeichen mit der Pistole gab. Sofort stand Niko auf und ging zur Treppe.
Aaro war kurz davor, total in Panik zu geraten. Sein Gehirn lief auf Hochtouren und wirbelte wirre Erinnerungen aus einem Buch auf, das er gelesen hatte. Darin ging es um den letzten russischen Zaren, um Nikolai II., der mitsamt seiner Familie im Keller eines Hauses in Jekaterinburg ermordet worden war. Vor Aaros innerem Auge tauchten die Gewehre des Erschießungskommandos auf, die ihr Feuer auf die entsetzte Zarenfamilie richteten. Hatte die Zarentochter Anastasia überlebt? Dieses Mysterium war Legende geworden, aber nach Aaro und Niko würde die Weltgeschichte nicht fragen. Aaro stand auf, folgte aber nicht Niko, sondern trat an Grubers Schreibtisch. Er beschloss, sich an das einzige Thema zu klammern, auf das der Deutsche vielleicht anspringen würde – und bei dem sich Aaro seiner eigenen Meinung nach einigermaßen gut auskannte.
Er räusperte sich. »Ich weiß, wie man Zahlen- und Buchstabencodes knacken kann«, sagte er so überzeugend wie möglich.
»Garantiert«, gab Gruber zurück, ohne ihn auch nur anzusehen. »In deinem Alter weiß man immer alles besser als die anderen.«
Aaro blieb stehen. »Ich meine es ernst. Wenn man einen Code entschlüsseln will, braucht man einfach brutal viel Rechenkapazität. Und die kriegt man heutzutage übers Internet, indem man Computer miteinander vernetzt. Dadurch entsteht ein riesiges Netz von elektronischen Gehirnen, die innerhalb einer Sekunde ausrechnen, wofür ein menschliches Gehirn Jahre bräuchte. Kennen Sie die Seite mathcodebreakers.com? «
Gruber schaute ihn unsicher an. »Dott komm? Wovon redest du?«
Aaro merkte, dass ihn der Strohhalm, an den er sich klammerte, wenigstens für eine Weile über Wasser hielt. »Sie wissen doch, was das Internet ist?«, fragte er vorsichtig, wobei er versuchte, jeden Hauch von Besserwisserei zu vermeiden.
»Komm zur Sache!«, fauchte der Deutsche. »Hältst du mich für einen Idioten?«
»Entschuldigung. Vielleicht wäre es am besten, wenn ich Ihnen zeige, wie … Sie haben doch einen Computer mit Internetanschluss?«
»Natürlich«, schnaubte Gruber, allerdings etwas ausweichend, und stand auf. »Aber diese Dinge löst man nicht mit Maschinenkraft und elektronischen Gehirnen, dafür braucht man scharfe menschliche Intelligenz, die kreativ verschiedene Elemente kombiniert. Ohne den Menschen weiß der Computer gar nichts.«
»Stimmt, Computer selbst wissen nichts, aber es lohnt sich, sie als Hilfsmittel zu benutzen.« Aaro bemühte sich um einen möglichst versöhnlichen Ton. Das erste Ziel hatte er erreicht – Gruber war anscheinend bereit, alles zu
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