Der Dunkle Code
nicht schießen, weil auf der Straße Verkehr war.«
»Du verdammter Idiot!«, brüllte Gruber. »Ich habe Besseres zu tun, als mich mit kleinen Halunken herumzuschlagen! Und du, Aaro Nortamo, rufst jetzt deinen Freund an. Er hat fünf Minuten Zeit, schön brav wieder zurückzukommen, falls er dich noch einmal lebendig sehen will.«
Aaro schluckte noch schwerer als zuvor. »Mein Freund hat kein Telefon dabei«, versuchte er zu erklären, aber Gruber schnitt ihm das Wort ab.
»Blödsinn! Zeig mir einen finnischen Jungen, der kein Handy hat, dann zeige ich dir einen Esel ohne Ohren. Du rufst ihn jetzt sofort an!«
Gruber deutete auf das funkelnagelneue Nokia in Aaros Gürteletui. »Und sprich Englisch, damit ich verstehe, was du sagst!«
26
Die Sonne war erstaunlich schnell hinter den Berggipfeln verschwunden. Von Osten her blies ein kalter Wind durch das Tal und erinnerte daran, dass es bis zum Sommer in den Alpen noch lange hin war. Niko spürte, wie ihm der kalte Schweiß das Rückgrat hinunterlief. Entsetzt war er den Hang hinaufgerannt und hatte ständig damit gerechnet, eine Kugel in den Rücken zu bekommen. Plötzlich meldete sich sein Handy.
Er blieb stehen und meldete sich keuchend.
Aaro war dran. Er befahl ihm auf Englisch, sofort zum Haus zurückzukommen. Ansonsten würde etwas Schreckliches passieren. Auch dann, wenn er die Polizei oder sonst wen anriefe.
Offenbar wurde Aaro gezwungen, Englisch zu sprechen. Niko verstand die Sprache nicht besonders gut, aber »now« war doch ziemlich eindeutig, auch wenn es in Nikos Ohren klang wie das Miauen einer Katze.
Aus Aaros heiserer, zitternder Stimme konnte man schließen, dass es der Deutsche ernst meinte. Und er, Niko, sollte jetzt mit Aaro den Kopf in die Schlinge stecken …
Niko versprach zu kommen und unterbrach die Verbindung. Was sollte er tun? Die Polizei anzurufen traute er sich nicht, das wäre Aaros Todesurteil. Und sein eigenes ebenfalls. Dem Killer mit dem leicht beweglichen Zeigefinger am Abzug würde er nicht entkommen. Ein Schuss genügte, um einem das Leben zu nehmen, und danach konnte man den leblosen Körper in irgendeine Felsspalte fallen lassen, wo er verrotten oder in den gierigen Mäulern der Wildschweine enden würde. Es schüttelte Niko am ganzen Leib bei dieser Vorstellung. Er wollte nicht an übereifrige Stoßzähne und Wildschweinrüssel denken, die sich in seinen Kadaver wühlten. In amerikanischen Horrorfilmen konnte einen so etwas schon mitreißen, aber im echten Leben fühlte es sich ziemlich übel an.
Niko beschloss, ein Risiko einzugehen und die Nummer von Essi zu wählen, die er von Aaro bekommen hatte. Auch dieser Anruf ging an die Mailbox, aber diesmal hinterließ Niko eine Nachricht.
»Hier ist Niko, der Freund von Aaro. Wir haben hier ein paar Probleme. Also, äh … wenn wir uns bis morgen früh nicht melden, musst du mit der Polizei hierher nach Oberstbrunn kommen. Das ist ein kleines Dorf östlich von Bergstein, irgendwo in der Nähe der österreichischen Grenze. Das Haus steht knapp einen Kilometer außerhalb des Dorfes. Einsames Haus, Alpenvilla, ziemlich düster. Bitte tu, was ich gesagt habe, es ist wichtig. Kein Scherz. ’tschuldigung.«
Das letzte Wort schluchzte Niko nur noch. Er löschte die Anrufe aus der Liste der gewählten Nummern und ging los. Er marschierte den Hang hinunter auf die Alpenvilla zu und kam sich dabei vor wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zum Galgen.
Achim Woinowitsch blickte auf seine täuschend echte Rolex-Kopie, die er einem senegalesischen Straßenhändler in der Nähe des Petersdoms abgekauft hatte. Es waren mittlerweile Minuten vergangen, ohne dass sich auf dem Grundstück etwas geregt hätte. Achim kratzte sich mit dem Lauf seiner Pistole an der Wange, wo es ihn juckte. Er stand hinter der halb geöffneten Tür im Erdgeschoss und zählte die Sekunden.
Schließlich hörte man am Hang einzelne Steine ins Rollen kommen und dann die Geräusche von stolpernden Schritten. Kurz darauf erschien ein junger Mann in schwarzem Kapuzenpulli und Jeans im Lichtkreis der Hoflampe.
Achim richtete die Pistole auf den Jungen. »Die Hände ausgestreckt zur Seite und schön gerade auf die Tür hier zukommen! Und dann die Treppe rauf.«
Der Junge gehorchte demütig, viel zu demütig. Er heulte fast.
Aaro blickte auf Niko, der mit steifen Schritten den Raum betrat, kalkweiß im Gesicht. Er gab sich alle Mühe, gegen die Lähmung anzukämpfen, die ihn umklammerte, aber es fiel
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