Der dunkle Fluss
es Ihnen erzählt.«
»Und sie hat mich geküsst. Sie war gekränkt. Sie schlug um sich. Ich war ihre Familie, und ich habe sie verlassen, als sie fünfzehn war.«
»Sie ist nicht Ihre Tochter, Mr. Chase.«
»Das hat nichts zu sagen.«
Grantham sah Robin und dann wieder mich an. Er verschränkte die Hände vor dem Bauch. »Na schön. Fahren Sie fort.«
»Sie trug einen weißen Bikini und eine Sonnenbrille. Sonst nichts. Sie war nass, sie kam gerade aus dem Wasser. Als sie weglief, rannte sie in südlicher Richtung am Ufer entlang. Da gibt es seit Ewigkeiten einen Pfad. Er führt zu Dolfs Haus, ungefähr eine Meile weit flussabwärts.«
»Haben Sie Ms. Shepherd tätlich angegriffen?«
»Nein.«
Grantham spitzte die Lippen. »Okay, Mr. Chase. Das reicht einstweilen. Wir sprechen uns später.«
»Stehe ich unter Verdacht?«
»Darüber spekuliere ich nur selten in einem so frühen Stadium der Ermittlungen. Aber Detective Alexander hat ziemlich nachdrücklich erklärt, dass sie Ihnen so etwas nicht zutraut.« Er schwieg kurz und schaute Robin an. Ich sah trockene Hautschuppen auf seinen Brillengläsern. »Natürlich muss ich den Umstand berücksichtigen, dass zwischen Ihnen und Detective Alexander offensichtlich so etwas wie eine Beziehung besteht. Das kompliziert die Dinge. Wir können uns ein besseres Bild von allem machen, wenn wir mit dem Opfer« — er bremste sich —, »wenn wir mit Grace gesprochen haben.«
»Wann wird das sein?«, fragte ich.
»Wir warten nur darauf, dass der Arzt es uns erlaubt.« Granthams Handy zirpte, und er warf einen Blick auf das Display mit der Anrufernummer. »Ich muss rangehen.« Er drückte auf eine Taste und wandte sich ab. Robin kam an meine Seite, aber es fiel mir schwer, sie anzusehen. Es war, als hätte sie zwei Gesichter: eins, das ich im Dämmerlicht ihres Schlafzimmers über mir gesehen hatte, und eins, das ich in den letzten Stunden gesehen hatte, das der Polizistin.
»Ich hätte dich nicht auf die Probe stellen dürfen«, sagte sie.
»Nein.«
»Ich entschuldige mich dafür.«
Sie stand vor mir, und ihr Gesicht war so sanft, wie ich es seit meiner Rückkehr nicht gesehen hatte. »Es ist kompliziert, Adam. Fünf Jahre lang hatte ich nichts als meinen Job. Ich nehme ihn ernst. Ich bin gut darin, doch er ist nicht immer schön. Nicht die ganze Zeit.«
»Was meinst du damit?«
»Man gerät in eine Isolation. Man sieht Schatten.« Sie zuckte die Achseln und grub tiefer nach einer Erklärung. »Auch die Guten belügen die Polizei. Irgendwann gewöhnt man sich daran. Dann fängt man an, damit zu rechnen.« Mühsam suchte sie nach Worten. »Ich weiß, es ist nicht richtig. Es gefällt mir auch nicht, aber es ist das, was ich bin. Es ist das, was ich geworden bin, als du weg warst.«
»Du hast nie an mir gezweifelt, Robin. Nicht mal in den schlimmsten Zeiten.«
Sie griff nach meiner Hand. Ich ließ es zu.
»Sie war so unschuldig«, sagte ich und meinte Grace.
»Sie wird darüber hinwegkommen, Adam. Andere haben schon Schlimmeres überstanden.«
Aber ich schüttelte schon den Kopf. »Ich rede nicht von dem, was heute passiert ist. Ich rede davon, dass ich weggegangen bin. Als sie ein Kind war. Es war, als gehe ein Licht von ihr aus. Das hat Dolf immer gesagt.«
»Inwiefern ?«
»Er sagte, die meisten Menschen gehen durch Licht und Dunkelheit. So ist die Welt normalerweise. Doch manche tragen ein Licht in sich. Grace war so jemand.«
»Sie ist nicht mehr das Kind, an das du dich erinnerst, Adam. Schon lange nicht mehr.«
Ich hörte einen Unterton in ihrer Stimme. »Was willst du damit sagen?«, fragte ich.
»Vor ungefähr sechs Monaten hat die Highway-Polizei sie morgens um zwei mit hundertzwanzig Sachen auf einem gestohlenen Motorrad erwischt. Sie trug nicht mal einen Helm.«
»Hatte sie getrunken ?«
»Nein.«
»Gab es ein Gerichtsverfahren?«
»Nicht wegen Motorraddiebstahls.«
»Warum nicht?«
»Die Maschine gehörte Danny Faith. Ich nehme an, er wusste nicht, dass sie sie genommen hatte. Er hatte sie als gestohlen gemeldet, verzichtete aber auf eine Anzeige. Grace wurde verhaftet, doch die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt. Dolf beauftragte einen Anwalt wegen der Geschwindigkeitsüberschreitung. Sie hat ihren Führerschein verloren.«
Ich sah das Motorrad vor mir, eine große Kawasaki, die Danny schon seit Ewigkeiten hatte. Grace würde sehr klein darauf aussehen, aber ich konnte auch sie vor mir sehen: die Geschwindigkeit, den
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