Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Himmels,
die Kraft des Meeres.
Motto der Welle (onda)
12
Dienstag 14. August, zwei Tage vor dem Palio
A ls Maria am nächsten Morgen erwachte, hatte sie Kopfschmerzen und einen steifen Nacken. Sofort waren alle Erinnerungen an den gestrigen Abend wieder da: das Proberennen; Angelos Sturz, von Fernando verursacht; der Streit mit ihrem Verlobten.
Noch auf dem Nachhauseweg hatte sie mehrfach versucht, Angelo auf seinem Handy zu erreichen, doch er hatte es ausgeschaltet. Da schlenderte sie durch ihre festlich geschmückte Heimatstadt, überall in den Straßencafés saßen fröhliche junge Menschen, aßen, tranken und lachten bis weit nach Mitternacht, und sie selbst fühlte sich am Boden zerstört. Wie gern hätte sie mit Angelo an einem dieser Tische gesessen und den Sternenhimmel genossen.
Den einen oder anderen Gesprächsfetzen hatte sie aufgeschnappt. Darunter auch eine Diskussion über die Vorkommnisse beim Proberennen. Ein junger Mann ereiferte sich über diese fantini, die nichts Besseres waren als bezahlte Söldner, die ihr Fähnchen nach dem Wind richteten. Ungebildelte, oftmals dumme, auf jeden Fall aber unehrliche Burschen, die er aus tiefstem Herzen verachtete. Und dieser völlig unnötige Unfall zeigte seiner Meinung nach nur, aus welchem Holz diese bastardi geschnitzt waren.
Maria war kurz davor, dem arroganten Schnösel ihre Meinung zu sagen, besann sich aber im letzten Moment. Irgendwie hatte er ja recht. Zumindest, was Fernando anging.
Jetzt schüttelte Maria die Gedanken an den gestrigen Abend ab und schlug ihre Bettdecke zurück. Was sie nun dringend brauchte, war eine heiße Dusche. Vielleicht gingen davon ja auch die Kopfschmerzen weg.
Es dauerte immer eine Weile, bis das Wasser, das aus der uralten Leitung kam, heiß wurde, und Maria vertrieb sich die Zeit, indem sie ihr Gesicht über dem Waschbecken mit Wasser kühlte. Ihre Augenlider fühlten sich geschwollen an. So, als hätte sie die ganze Nacht über geweint.
Als die ersten Nebelschwaden über die Duschwandabtrennung waberten, schlüpfte Maria unter den heißen Wasserstrahl und genoss die Wärme, die sie durchströmte. Wie erhofft, löste sich ein Teil ihrer Verspannungen. Doch auch unter der heißen Dusche konnte sie an nichts anderes denken als an den Streit mit Angelo. Obwohl sie verstand, warum er aufgebracht reagiert hatte, fühlte sie sich durch seine ablehnende Haltung verletzt. Schließlich hatte nicht sie ihn vom Pferd gestoßen. Und ihr Vater hatte ihr noch gestern, während sie ihn zur Rede stellte, versichert, dass Fernando nicht auf sein Geheiß hin so übertrieben hart in dieses Proberennen gegangen war. Im Gegenteil. Filippo hatte sich den Jockey nach dem Rennen zur Brust genommen und ihm gesagt, was er von seiner Aktion hielt: nichts!
Doch Angelo hatte sie so brüsk zurückgewiesen, als wäre Maria an allem schuld. Dabei hatte sie ihn nur beruhigen und ihm ihre Loyalität versichern wollen. Sie wusste zwar, dass er aufbrausend sein konnte und sie hätte ihm auch sofort verziehen, wenn er sich wenigstens anschließend bei ihr gemeldet und um Verzeihung gebeten hätte. Aber sie hatte bis jetzt noch nichts von ihm gehört und schlimmer noch, er hatte sogar sein Handy ausgeschaltet!
An diesem Punkt ihrer Überlegungen angekommen, spürte Maria wieder den Wunsch zu weinen in sich aufsteigen. Teils aus Wut, teils aus dem Gefühl heraus, zutiefst gekränkt worden zu sein, teils aber auch aus Angst davor, dass sich die Sache nicht mehr so leicht einrenken ließ. Sie brauchte nur an ihre Vorfahrin Eva Maria zu denken. Aber sie gehörte nun einmal nicht zu den Frauen, die bei jeder Gefühlsregung zu heulen anfingen. Selbst wenn sie es manchmal vielleicht gern wollte.
Energisch drehte sie den Wasserhahn zu und die heiße Quelle versiegte. Sie öffnete die gläserne Duschabtrennung, griff nach dem Handtuch, das an einem Haken an der Wand hing und wollte es sich gerade um die Brust wickeln, als ihr Blick auf den Spiegel über dem Waschbecken fiel und sie mitten in der Bewegung innehielt. Ihr Herz begann zu rasen und ihre Hände zitterten plötzlich.
Wie von Geisterhand geschrieben stand auf dem vom Wasserdunst beschlagenen Spiegel der Schriftzug:
STATI ATTENTI, MARIA!
SEI GEWARNT, MARIA!
Maria lief in ihrem Zimmer auf und ab wie ein Raubtier im Käfig. Was hatte das alles zu bedeuten? Wer ließ ihr eine solche Warnung zukommen? Oder war der Satz eher als Drohung zu verstehen? Wer konnte das
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