Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
getan haben? Wer hatte überhaupt die Möglichkeit dazu? War Gianluca etwa noch einmal in ihr Haus eingedrungen? Hatte sich seine Liebe zu ihr jetzt endgültig in tödlichen Hass verkehrt? Es gab kaum eine Frage, die Maria sich nicht stellte. Selbst die Möglichkeit, dass es eine Nachricht aus dem Jenseits war, verfasst von Eva Maria, zog sie in Erwägung, wies sie dann aber entschieden wieder von sich. Nein, an so etwas konnte sie einfach nicht glauben.
Je länger Maria nachdachte, desto absurder kam ihr das alles vor. Hatte sie sich die Schrift womöglich nur eingebildet?
Sie zögerte, allerdings nur kurz. Vor wenigen Minuten hatte sie das Badezimmer mehr oder weniger fluchtartig verlassen. Doch jetzt wollte sie es genau wissen.
Vor der Tür zum Bad atmete sie einmal tief durch, dann stieß sie die Tür auf und schaute unverwandt auf den Spiegel. Der Nebel vom Duschen hatte sich bereits verflüchtigt. Und mit ihm die Schrift. Doch als sie jetzt gegen den Spiegel hauchte, wurde ein Teil des Textes wieder sichtbar:
STATI AT…
Sie hatte sich also nichts eingebildet. Doch falls Angelo auf die Idee kommen würde, ihr zu unterstellen, sie hätte sich das alles nur ausgedacht, wollte sie auf Nummer sicher gehen. Deshalb schaltete sie die Dusche zum zweiten Mal an diesem Morgen ein, ging dann in ihr Zimmer und kehrte mit ihrem Handy in der Hand zurück.
Der neuerliche Duschnebel ließ die Schrift abermals deutlich hervortreten. Maria stellte sich mit ein wenig Abstand vor den Spiegel, drehte ihr Handy und drückte auf den Auslöser. Hoffentlich konnte man die Schrift auf dem Foto erkennen! Am besten schickte sie das Foto direkt an Angelo, verbunden mit der Bitte, sich möglichst schnell bei ihr zu melden. Doch als sie jetzt das Foto aufrief und es betrachtete, lief ihr ein Schauer über den Rücken und ihre Nackenhaare sträubten sich wie bei einem verängstigten Tier. Sie hatte wahrhaftig keinen Faible für Übersinnliches. Doch das, was sie nun sah, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln: Auf dem Foto konnte man zwar kaum die Schrift auf dem Spiegel ausmachen, dafür blickten ihr zwei Gesichter aus dem fotografierten Spiegel entgegen. Ihr eigenes, versteckt hinter der Handykamera, und ein schemenhaft Verschwommenes, das ihr, der Fotografin, über die Schulter zu blicken schien. Ein Gesicht, wie aus dem Wasserdunst geformt, der in dem Badezimmer in der Luft hing. Es war eindeutig das Gesicht einer traurigen jungen Frau: Eva Maria.
Maria glaubte nicht, dass Angelo auch nur ein Wort von dem, was sie auf seine Mailbox gesprochen hatte, verstehen würde. Aber zumindest die Dringlichkeit eines Rückrufs konnte er ihrem Schluchzen wohl entnehmen. Jetzt wollte sie allerdings keine Sekunde länger in diesem Spukhaus bleiben. Eilig raffte sie ihre Unterlagen zum Lernen zusammen und hetzte dann durch den dunklen langen Flur, vorbei an der Ahnengalerie und dem Porträt der jungen Frau, die sie vor wenigen Minuten so abgrundtief erschreckt hatte. Den Blick hielt sie gesenkt. Sie wollte Eva Marias Antlitz nicht so schnell wiedersehen. Am liebsten wollte sie es niemals wiedersehen – weder als Bild an der Wand und erst recht nicht in ihrem Badezimmer!
Maria hastete weiter. Kurz vor dem Treppenabsatz lag das Schlafzimmer ihres Vaters. Gerade als sie daran vorbeigehen wollte, schwang die Tür vor ihr lautlos auf und eine weiße Gestalt trat ihr unvermittelt in den Weg.
Mit einem entsetzten Aufschrei ließ Maria ihre Papiere fallen, als sie der Silhouette einer jungen Frau gewahr wurde.
Auch Antonia, die einen Stapel frisch gewaschener, gebügelter und gestärkter weißer Leinentücher auf den Armen trug, zuckte kurz zusammen. Dann hatte sie sich wieder gefangen. »Signorina Morelli? Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich.
Mit zitternden Händen hob Maria ihre Arbeitsblätter auf. »Jaja«, antwortete sie. »Selbstverständlich ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur erschreckt.«
»Das tut mir leid«, sagte Antonia. »Ich wollte Sie ganz bestimmt nicht erschrecken.«
Maria zwang sich zu einem Lächeln, das ihr mehr schlecht als recht gelang. »Kein Problem, Antonia. Ich danke Ihnen«, fügte sie hinzu, als das Dienstmädchen ihr den letzten Bogen Papier vom Boden reichte. Dann setzte sie hoch erhobenen Hauptes ihren Weg fort.
Antonia sah ihr mit sorgenvoller Miene hinterher.
Als Maria ihren Lieblingsplatz im Garten erreichte, legte sie ihre Mappe neben sich auf die Bank, schloss für einen Moment die
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