Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Fernandos unvernünftiges Verhalten in sich aufflammen. Schließlich war dies nur ein Proberennen! Es gab keinen Grund solche Risiken einzugehen! Was hatte Angelo noch zu ihr gesagt? Es ging nur darum, die Fähigkeiten des Pferdes zu testen und es einschätzen zu lernen. Ein Sieg im Proberennen bedeutete gar nichts! Warum also ging Fernando jetzt schon so hart zur Sache?
Doch so schnell, wie Angelo in ihr Blickfeld geraten war, so schnell war er auch schon wieder daraus verschwunden. Und obwohl es keine dreißig Sekunden dauerte, bis ihr Verlobter wieder auf dem Teil der Strecke erschien, den Maria überblicken konnte, kam ihr diese halbe Minute vor wie eine Ewigkeit.
Immer noch ritt Angelo vorneweg. Gefolgt von Fernando, der keine Gelegenheit ausließ, Amarosa rüde abzudrängen. Maria konnte an Angelos Gesichtsausdruck sehen, dass ihr Verlobter vor Wut beinahe platzte.
»Was macht der denn da? Spinnt der?« Auch das Mädchen neben Maria schimpfte über Fernando und stieß ihre rechte Hand in die Höhe, während sie die Spitze ihres Zeigefingers und des Daumens zu einem Ring zusammenführte. Maria konnte diese Geste für sich übersetzen: »Arschloch!« Sie bezweifelte jedoch, dass Fernando sie wahrgenommen hatte. Leider.
Und schon waren die beiden Jockeys wieder aus Marias Blickfeld verschwunden.
Als sie das dritte Mal die Stelle passierten, an der Maria wartete, hatte Fernando die Führung übernommen. Nun drängte er Angelo nicht mehr zur Seite hin ab, behinderte ihn jedoch, indem er mehrfach absichtlich seinen Weg kreuzte, bis Amarosa scheute und Angelo auf dem sattellosen Pferderücken beinahe das Gleichgewicht verlor. Maria war sich sicher, dass Fernando auch vor dem Einsatz des Ochsenziemers gegen seinen Kontrahenten nicht zurückgeschreckt hätte, wenn der nerbo in den Proberennen erlaubt gewesen wäre. Zum Glück war er das aber nicht!
Das Mädchen neben Maria kreischte, als Angelo auf Amarosas Rücken bedenklich zur Seite kippte, und hielt sich erschrocken die Hände vor den Mund. In letzter Minute konnte Angelo sich fangen.
Wie beim Palio selbst wurden die Pferde auch bei den Proberennen ohne Sattel geritten. Das bedeutete nicht nur eine besondere Herausforderung an die körperliche Fitness und das Gleichgewichtsgefühl der Reiter, sondern war darüber hinaus für besonders empfindsame Pferde eine zusätzliche Belastung. Aus einem ohnehin nervösen Pferd wie Amarosa konnte dieser Umstand sogar eine tickende Zeitbombe machen.
Und so wusste Maria, obwohl sie nichts sah, bereits, was passiert war, als sie die Zuschauer hinter der nächsten Kurve entsetzt aufschreien hörte: Amarosa hatte Angelo wenige Meter vor dem Ziel abgeworfen. Und hinter dem auf dem Boden liegenden Jockey stürmten jetzt acht weitere Pferde heran!
»Oh mein Gott, Angelo, mein Engel!«, rief das Mädchen neben Maria und verbarg das Gesicht in ihrem fazzoletto mit dem Wappen des Drachen.
Noch bevor der nächste Böllerschuss das Ende des Rennens verkündete, hatte Maria die Streckenabsperrung überwunden und rannte über die ockerfarbene Erde. Ihre Gedanken galten einzig und allein ihrem Verlobten. War er verletzt? Sie bekam nichts von dem mit, was um sie herum geschah. Nicht einmal der Böllerschuss drang in ihr Bewusstsein. Ebenso wenig wie die Nachricht, die über Lautsprecher verkündet wurde, dass Fernando auf Fabioncello diesen Probelauf für den Adler gewonnen hatte.
Sie war unter den Ersten, die sich um den auf dem Boden liegenden Jockey scharten, der aber in diesem Moment aufsprang, die helfenden Hände, die sich ihm entgegenstreckten, wütend zur Seite stieß und sich auf seinen Kontrahenten stürzte.
»Bist du total bescheuert?«, schrie er Fernando an, der gerade vom Rücken seines Pferdes geglitten war. Seine Füße berührten kaum den Boden, als er auch schon Angelos Fäuste zu spüren bekam. »Du tickst wohl nicht mehr sauber! Das ist ein Proberennen, du blöder Bastard!«
Fernando hob abwehrend die Hände, grinste dabei aber höhnisch. Ebenso wie Danilo, der Jockey des Panthers, der mit verschränkten Armen nur wenige Schritte entfernt stand und sich ganz offenkundig ins Fäustchen lachte. Aus seiner Sicht konnte es wohl nichts Besseres geben als einen Streit zwischen zwei verbündeten Contraden – und dass eine dieser Contraden noch dazu die Rivalin des Panthers war, machte das ganze Schauspiel natürlich umso interessanter. Wenn sich Adler und Drache jetzt schon prügelten, konnte er sich entspannt
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