Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
Adlers, aber wäre er nicht gezogen worden, so hätte Morelli seinen zukünftigen Schwiegersohn engagieren können und damit mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Er hätte einen ernst zu nehmenden Konkurrenten ausgeschaltet, die eigenen Siegeschancen durch das Engagement des zurzeit besten Jockeys erhöht und zugleich wäre er dem Dilemma entkommen, dass nun sozusagen ein zukünftiger Teil seiner eigenen Familie auf der falschen Seite stand.
Ach, war das alles kompliziert!
Angelo war ein echter Ausnahmejockey. Sowohl was seine reiterischen Fähigkeiten anging als auch seine Einstellung zu Loyalität und Ehre. Dass er zudem noch aus der Contrade stammte, für die er nun antrat, erhöhte natürlich seinen Ehrgeiz zu gewinnen. Alle anderen fantini, die am Palio teilnahmen, stammten aus anderen Regionen Italiens, hauptsächlich der Maremma und Sizilien, und verdingten sich nur des Geldes und des Ruhmes wegen beim Palio in Siena. Ein persönliches Interesse am Sieg hatten sie nicht.
Signore Morelli fluchte leise vor sich hin, während er an die Beziehung seiner Tochter zu Angelo dachte. Die Verlobung der beiden war ihm ein Dorn im Auge, und das nicht nur, weil Angelo den Ruf eines Schürzenjägers besaß. Maria dachte wohl, ihr Vater hätte nicht mitbekommen, dass Angelo vor ihr mit der Haushälterin Antonia zusammen gewesen war. Doch er wusste es und er konnte den jungen Mann sogar verstehen, denn Antonia war wirklich ein außergewöhnlich hübsches Mädchen.
Nein, das war es nicht, was ihn störte. Schlimmer war, dass er die beiden mit neunzehn und fünfundzwanzig Jahren für viel zu jung hielt, um in diesem Alter schon Pläne für ein ganzes gemeinsames Leben zu schmieden. Doch am schlimmsten wog, dass Angelo eben kein Adler war, sondern ein Drache. Mit Sorgen dachte Signore Morelli an eine Zukunft, in der er dabei zusehen musste, wie seine Enkelkinder zu kleinen Drachen erzogen wurden: wie sie beim Palio Symbole des Drachen trugen und die falschen Fahnen schwenkten.
Vielleicht war es so gesehen ein Glück, dass sein zukünftiger Schwiegersohn weniger traditionsbewusst war, als er sich das eigentlich gewünscht hätte. Angelo hatte bereits angedeutet, dass ihm nicht allzu viel daran lag, nach der Hochzeit mit Maria im Stadtviertel des Drachen zu leben. Zurzeit lebte er nicht einmal mehr in Siena, sondern in einem kleinen Ort in der Umgebung, der näher an dem Gestüt lag, in dem er als Trainingsjockey beschäftigt war.
Ob Maria nach der Heirat ebenfalls dorthin ziehen würde? Nein, sie musste ja erst ihre Ausbildung zur Krankenschwester in Siena beenden. Und danach wollte sie Medizin studieren und Kinderärztin werden.
Signore Morelli seufzte. Hoffentlich blieb sie bei ihren ehrgeizigen Plänen. Dann lächelte er in sich hinein, als ihn plötzlich eine Woge der Zuneigung für seine Tochter überschwemmte. Es nutzte ja ohnehin nichts, sich über all diese Dinge den Kopf zu zerbrechen. Maria machte sowieso, was sie wollte. Das war schon immer so gewesen. Außerdem wollte er sich auch nicht allzu sehr in ihr Leben einmischen. Zu gut erinnerte er sich daran, wie es bei ihm selbst gewesen war, als er sich in Marias Mutter verliebt hatte, die sechzehn Jahre jünger gewesen war als er selbst. Ihre Eltern waren lange Zeit gegen diese Verbindung gewesen, die die große Liebe – nein, die einzige Liebe seines Lebens gewesen war. Was Elena wohl von den Heiratsplänen ihrer Tochter gehalten hätte? Vermutlich hätte sie Filipo ermahnt, sich da rauszuhalten, weil ihn das nichts anginge. Wenn Maria ihren Angelo liebte, dann sollte sie ihn auch heiraten. Basta!
Trotzdem blieb sein ungutes Gefühl, sowohl was die bevorstehende Hochzeit anging als auch den Palio, der durch die Teilnahme von Panther und Drachen noch brisanter zu werden versprach. Sorgenvoll schüttelte er den Kopf. Es gab noch manches zu erledigen, bevor er sich bequem zurücklehnen konnte, um den Ausgang der Geschichte zu verfolgen.
In Gedanken versunken, bahnte sich der capitano einen Weg durch die Menschenmenge auf dem Campo, die die Ergebnisse der Auslosung zum Teil fröhlich feierte, zum Teil aber auch in handfeste Auseinandersetzungen verstrickt war, die die Polizei vergeblich zu schlichten versuchte.
So war das eben mit dem Palio. Er dauerte das ganze Jahr über. Il Palio si corre tutto l’anno.
Schwer und mit langsamem Schritt
steigt die Chiocciola zum Campo herab,
um zu siegen.
Motto der Schnecke
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