Der dunkle Geist des Palio (German Edition)
ihre Angespanntheit erschien Maria das Geräusch unnatürlich laut zu sein und so zuckte sie erschrocken zusammen. Ihr erster Gedanke galt Luigi, dem Sohn des Gärtners, der sich häufig auf dem Anwesen aufhielt, während sein Vater die Arbeit erledigte. Luigi schlich gern durch die Büsche und hatte sich schon mehr als einmal einen Scherz mit ihr erlaubt, indem er sie erschreckte. Es war also mehr als wahrscheinlich, dass der Junge sie und Angelo beobachtet hatte und jetzt leise versuchte, sich davonzuschleichen.
Lächelnd drehte sich Maria zu dem Gebüsch hinter der Bank um, auf der sie mit Angelo saß. Ihre Lippen formten bereits den Namen des Kindes. Doch als sie den Mann erkannte, der dort, nur wenige Meter von ihnen entfernt, das Weite suchte, schrie sie erschrocken auf.
Angelo verlor keine Sekunde. Er sprang hoch und stürzte dem Eindringling hinterher. Maria rief seinen Namen, doch Angelo hörte sie nicht. Oder er wollte sie nicht hören. Er bahnte sich einen Weg durch die Büsche, ohne auf die Zweige zu achten, die ihm hart ins Gesicht peitschten. Er rannte und rannte, eine unbändige Wut im Bauch. Wer wagte es, sich auf dem Privatgelände herumzutreiben und Maria und ihn heimlich zu beobachten?
Nach einigen Metern stolperte er über eine Baumwurzel und während er sich noch mit rudernden Armen zu fangen versuchte, wuchs der Vorsprung des anderen weiter an. Der Eindringling kletterte geschickt über den großen, schmiedeeisernen Zaun, der das Anwesen der Morellis umgrenzte, schwang sich auf seine Vespa und raste mit aufheulendem Motor davon.
Atemlos blieb Angelo stehen.
Er rang immer noch nach Luft, als er zu Maria zurückkehrte. Es war weniger der Sprint, der ihn erschöpft hatte, als vielmehr die Wut über die Unverfrorenheit des Einbrechers und der Ärger darüber, den Kerl nicht erwischt zu haben. Er hob die Arme, um Maria zu zeigen, dass er leider nichts erreicht hatte.
»Er ist mir entwischt«, stieß er hervor. »Und da kann er verdammt noch mal von Glück reden. Denn wenn ich ihn gekriegt hätte, dann …« Er schlug mit seiner rechten Faust in seine linke Handfläche.
Maria schwieg fassungslos. Das Intermezzo hatte sie mehr erschreckt, als sie zugeben wollte. »Ich hab ihn erkannt«, flüsterte sie dann. »Ich weiß, wer es war.«
»Wer?« Angelos Augen funkelten wütend.
»Zuerst dachte ich, es sei Luigi«, erklärte sie, »der Sohn des Gärtners. Aber dann habe ich gesehen, dass es Gianluca war.« Ihre Stimme zitterte, als sie den Namen aussprach.
»Schon wieder dieser Clown?«
Maria nickte, während sie gleichzeitig zu verarbeiten versuchte, dass ihr alter Klassenkamerad nicht einmal davor zurückschreckte, ihr in ihrem eigenen Zuhause aufzulauern. »Ich weiß langsam nicht mehr, was ich noch machen soll. Ich hab ihm schon mehrmals deutlich gesagt, dass ich nichts von ihm will und er mich endlich in Ruhe lassen soll. Aber er will es wohl einfach nicht verstehen.«
»Wenn dieser Penner sich noch einmal hier blicken lässt, dann werde ich schon dafür sorgen, dass er versteht«, knurrte Angelo.
Maria sah ihren Verlobten an und sagte nichts.
»Ich will um jeden Preis verhindern, dass der Adler zur nonna wird«, sagte Signore Morelli zu dem sehr viel kleineren Mann, der ihm gegenüberstand.
Nonna, also Großmutter, nannte man abfällig die contrada, die die längste Zeit keinen Palio gewonnen hatte. Zurzeit trug die Eule diesen zweifelhaften Titel, doch auch der letzte Sieg des Adlers lag schon einige Jahre zurück.
Die Auslosung der letzten drei teilnehmenden Contraden war in jedem Jahr so etwas wie der Startschuss für die abschließenden Vorbereitungen. Signore Morelli hatte zwar auch vorher bereits mit dem Jockey Fernando verhandelt und ihn für das Rennen verpflichtet, doch jetzt ging es darum, den fantino auf den Sieg für den Adler einzuschwören. Koste es, was es wolle. Und Morelli ließ es sich eine ganze Menge kosten.
»Kann ich mich darauf verlassen, dass du für den Adler reitest?«
»Das ist doch eine ausgemachte Sache.«
»Du weißt, was ich meine, Fernando. Keine Absprachen mit anderen. Sind wir uns da einig?« Morelli reichte dem Jockey die Hand.
»Was denken Sie von mir, capitano! « Überzeugend spielte Fernando den Empörten, während er sich den Geldschein in die Hosentasche schob. Dass es ein Fünfhunderter war, entging ihm nicht.
Signore Morelli sparte sich eine Antwort. Was er über Fernandos Loyalität dachte, behielt er lieber für sich. Er war einer
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