Der dunkle Grenzbezirk
Eulen ja selten tagsüber ausfliegen. Vielleicht stand der Draht jetzt nicht unter Strom, es sei denn, sie führten gerade Experimente durch. Er mußte es aber sicher wissen.
Er nahm seine Uhrkette ab, machte sie an einem Zweig fest und ging zum Zaun zurück. Stand der Zaun unter Spannung, so würde eine zwischen zwei benachbarte Drähte gehaltene Metallkette Kurzschluß und einen Warnblitz erzeugen. Höchstwahrscheinlich würde auch eine Alarmglocke ertönen, aber dieses Risiko mußte er eingehen. Er brachte also die Kette in Kontakt mit den Drähten, aber es passierte nichts. Der Drahtzaun stand nicht unter Strom. Einen Augenblick später war er auf der andern Seite und versteckte sich schnell in einem Gebüsch.
Wenn er einen Umweg machte, konnte er das untere Gebäude erreichen, ohne die Deckung zu verlassen. Das tat er denn auch, und bald stand er im Schutz der Hausmauer. Langsam schlich er ihr entlang und schaute um die Ecke. Etwa drei Meter entfernt war ein Fenster. Hatte er einmal das Gebüsch verlassen, war die Möglichkeit, daß er entdeckt wurde, sehr groß. Für diesen unglücklichen Fall würde er dem Schicksal Rovzidskys nicht entgehen, wenn er es heimlich tat. So leise wie möglich schlenderte er, die Hände in den Taschen, um die Ecke des Gebäudes und schaute ins Fenster.
Er sah ein Laboratorium, das fast die ganze Länge des Gebäudes ausfüllte. Am andern Ende war eine Tür, von der er annahm, daß sie zu einem Verbindungsraum zum Hochspannungslaboratorium führte.
Er wurde aus dem Labor, das er da vor sich sah, nicht schlau. Auf der einen Seite stand eine kleine Erzzerkleinerungsmaschine, wie sie in der Metallurgie verwendet wird, daneben ein Kathodenstrahloszillograf. In einer Ecke waren die Ausrüstung des analytischen Chemikers mit allem Drum und Dran zu sehen, daneben unerklärlicherweise eine kleine hydraulische Presse mit einem runden Stempel. Eine kleine Leitspindeldrehbank vervollständigte die Ausstattung.
Er war gerade auf der Suche nach einem Zugang zum Hochspannungslaboratorium, als er vom Geräusch eines Wagens erschreckt wurde, der im ersten Gang den Berg hinauffuhr. Sofort kam ihm der verlassene Steinbruch in den Sinn. Es führte sicher eine Straße zu ihm hin, die auch als Zufahrt zum Laboratorium benutzt werden konnte. Der Wagen hielt. Carruthers ging zum hintersten Fenster, drückte sich gegen die Mauer und wartete gespannt.
Wenig später läutete eine elektrische Glocke. Durch das Fenster sah er einen Mann in grobem Kattun aus der Tür am andern Ende kommen und in der Tür ihm gegenüber verschwinden. Er erschien aber gleich wieder und hielt die Türe auf für jemanden, der an ihm vorüberrauschte. Carruthers zog seinen Kopf zurück, bevor er das Gesicht des Ankömmlings gesehen hatte, aber er erriet, wer es war: die Gräfin Schverzinsky.
Er hörte, wie sie den Mann im Arbeitskittel gebieterisch ansprach. Dieser verschwand in dem Raum, aus dem er gekommen war, und wenige Sekunden später kam ein anderer Mann herein. Carruthers hörte ihn mit der Gräfin einige Worte wechseln, die wie eine Begrüßung klangen. Seine Stimme hatte etwas seltsam Vibrierendes, so daß sogar die häßlichen Gutturallaute des Ixanischen angenehm klangen. Carruthers beugte sich etwas vor, damit er den Mann sehen konnte.
Es war ein schmalschultriger kleiner Mann mit einem großen Kugelkopf, der nur spärlich mit schwarzen Haaren bedeckt war. Seine Lippen waren gekrümmt, als sei er dauernd dabei, irgendwelche bitteren Sätze zu formulieren. Er trug einen weißen Staubmantel. Dieser Mann mußte, so schloß Carruthers, wohl Kassen sein.
Zu seiner großen Erleichterung begann die Gräfin nun französisch zu sprechen, offenbar damit der Mann im Arbeitskittel, der unter der Tür stand, ihre Worte nicht verstehen konnte. Der Mann ging hinaus und ließ die Tür halb offen.
»Sie müssen besser aufpassen«, sagte sie. »Wenn das Licht während der Vorstellung ausgegangen wäre, hätte das eine Katastrophe zur Folge gehabt. Es ist schon schlimm genug, daß es in der Panik drei Verletzte gegeben hat und daß der Präsident erklärt hat, er werde eine Untersuchung anordnen.«
»Dieser Trottel«, bemerkte Kassen verächtlich.
»Mein lieber Jakob«, sagte die Gräfin kühl, »wenn ich nicht wüßte, daß Sie zwar ein Tor, aber auch ein Genie sind, wäre ich böse mit Ihnen. Ich könnte natürlich den Präsidenten davon überzeugen, daß eine Untersuchung überflüssig ist, aber das würde ihn bloß
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