Der dunkle Grenzbezirk
Elektrizität versorgten.
Bis jetzt hatte er keinen Nebenanschluß gesehen, obwohl er jeden Meter der Freileitungskabel genau gemustert hatte. Wenn es so einen Anschluß gab, so mußte er entweder irgendwo rechts liegen, wo die Leitung seinem Blick entzogen war, oder dann auf der andern Seite neben dem Kraftwerk. Es schien ihm unwahrscheinlich, daß Kassens Laboratorium direkt neben dem Kraftwerk oder auf der andern Seite des Staudamms lag. Beim Kraftwerk könnte Kassen seine Experimente kaum unbeobachtet durchführen. Und Stromleitungen zu bauen, bloß, um ein Laboratorium am andern Ufer des Stausees zu betreiben, wäre viel zu teuer gewesen. Nein, was er suchte, war irgendwo im Tal verborgen.
Er ging zurück bis zum Punkt, wo er die Leitungen verlassen hatte, und folgte ihnen einen sanften Hang hinunter. Zu seiner Rechten wuchsen die Tannen turmgleich in den Himmel. Links von ihm wurzelten sie so weit unten, daß er neben ihren Wipfeln stand. Ein Trampelpfad, der wahrscheinlich von den Waldarbeitern stammte, die dafür zu sorgen hatten, daß die Leitungen durchgingen, machte den Abstieg zuerst leicht. Doch dann hörte der Pfad plötzlich auf, die Leitungen bogen links ab und er stand vor einem verlassenen, etwa 100 Meter breiten Steinbruch. Er ging am Rand entlang, bis er gefahrlos hinuntersteigen konnte, und kletterte dann durch den Steinbruch. Einmal drüben mußte er nicht mehr weit zu den Leitungen hinaufklettern, die hier auf ihrem Weg ins Tal schon sehr weit unten waren. Nun lag bloß noch ein kleines, dichtes Wäldchen zwischen ihm und dem Ende der Leitungen, die er noch nicht auf einen Nebenanschluß überprüft hatte. Schon wollte er resigniert umkehren, mit der Absicht, am nächsten Tag noch einmal hier heraufzuklettern, um den letzten Abschnitt der Leitungen auf der Seite des Tals, wo das Kraftwerk stand, auszukundschaften, als er Isolatoren durch die Bäume schimmern sah: er hatte also gefunden, was er gesucht hatte.
Vorsichtig ging er zum Fuß des großen Masten, neben dem auf einem kleinen Stahlgestell zwei riesige Steatitisolatoren standen. Sie trugen das Gewicht der dickisolierten Kabel, die fast im rechten Winkel zur Kraftwerkleitung durch ein Dickicht steil nach unten führten.
Langsam folgte er ihnen. Sie führten nicht sehr weit. Fast wäre er in eine von den Bäumen verborgene tiefe Wasserrinne gestürzt. Er schaute über den Rand. Da drunten, auf allen Seiten vor neugierigen Blicken geschützt, stand ein Backsteingebäude, in dem die Kabel des Nebenanschlusses verschwanden.
Es war ein Gebäude von eigenartiger Gestalt. Es hatte auf einer Seite einen etwa 25 Meter hohen viereckigen Turm. Die Form des Grundrisses verlieh ihm jedoch ein gedrungenes Aussehen. Ein einziges langes Fenster auf der Seite zeigte, daß er trotz seiner Höhe keine Stockwerte hatte. Die Kabel führten in diesen Turm. Er erriet seinen Zweck. Er hatte solche Gebäude schon oft gesehen. Es war ein Hochspannungslaboratorium.
Von dort, wo er stand, konnte er keinen Eingang sehen. Man betrat den Turm zweifelsohne durch das langgestreckte niedrige Gebäude, mit dem Glasdach, an das er angebaut war. Er wunderte sich über den Scheinwerfer, der eingehüllt in eine Plane, auf dem Dach des Turmes stand. Er beschloß, sich das Labor aus der Nähe anzuschauen.
Zu seiner Linken fiel der Abhang bis zu der Wasserrinne hinunter. Vorsichtig kletterte er hinunter. Einmal trat er auf einen großen Stein, der sich loslöste und mit schrecklichem Gepolter in die Wasserrinne hinunterstürzte. Als aber nach zwei Minuten niemand aus dem Laboratorium herauskam, setzte er seinen Abstieg fort. Bald war er auf der Höhe des Labors. In der Wasserrinne wuchsen Vogelbeerbüsche. Über ihre Schößlinge hinweg sah er auf das Dach. Vorsichtig bog er sie beiseite und ging dann etwa zwölf Meter geradeaus. Dann blieb er stehen. Er stand vor einem Drahtzaun.
Es war aber nicht der Zaun, der ihn stehenbleiben ließ – er hätte sich leicht durchwinden können – es war der Anblick einer toten Eule, die zwischen zwei Drähten hing. Wenige Fuß entfernt stand ein Pfosten, an dem die Drähte befestigt waren. Er schaute sie näher an. Es war ein elektrisch geladener Drahtzaun. Wer immer ihn berührte, solange er unter Strom stand, war auf der Stelle tot.
Er zog sich in den Schutz der Vogelbeerbüsche zurück und dachte über das neue Hindernis nach. Die Eule war offensichtlich schon ein paar Stunden tot, wahrscheinlich seit der vergangenen Nacht, da
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