Der dunkle Highlander
seine Söhne groß, als wären es die eigenen. Trotz ihres festen Vorsatzes, sich nie wieder mit einem Laird einzulassen - ob verheiratet oder nicht - verliebte sie sich in den exzentrischen, sanftmütigen, klugen Silvan. Schon als sie ihre blutunterlaufenen, verschwollenen Augen damals auf der Straße aufschlug und er sich über sie beugte, spürte sie ein Flattern im Bauch. Sie gab sich aber damit zufrieden, ihn aus der Ferne zu lieben, und verbarg ihre Gefühle hinter mürrischen Bemerkungen. Erst vor dreieinhalb Jahren hatten Gwen und Drustan sie zusammengebracht. Die Liebe der beiden jungen Leute weckte eine Leidenschaft, die auch Silvan all die Jahre sorgfältig unter Verschluss gehalten hatte. Seither war das Leben süßer, als es sich Neil je hätte träumen lassen. Nichts konnte ihr die Kinder ersetzen, die sie vor langer Zeit verloren hatte, aber das Schicksal hatte ihr in reiferen Jahren ein zweites Glück geschenkt. Ihre kleinen Zwillinge schliefen im Kinderzimmer unter der gewissenhaften Aufsicht ihrer Nanny Maeve.
Neil liebte Silvan mehr als ihr Leben, auch wenn sie ihm das nicht zeigte. Aber etwas störte sie ganz gewaltig, und es gelang ihr nicht, damit Frieden zu schließen. Silvan hatte gegenüber seiner ersten Frau nie das Heiratsgelübde der Druiden abgelegt. Das hatte ihr Mut gemacht, als er sie bat, seine Frau zu werden. Doch in den dreieinhalb Jahren hatte er auch ihr gegenüber nie den Eid abgelegt. Solange das zwischen ihnen stand, konnte sie ihm ihr Herz nicht offen zu Füßen legen. Ständig fragte sie sich, warum er sie nicht genug liebte. Es war schrecklich zu wissen, dass sie ihren Mann mehr liebte als er sie.
Silvan saß, genau wie Neil es erwartet hatte, in seiner Bibliothek im Turm, zu der eine Treppe von einhundertunddrei Stufen hinaufführte. Und er war wie üblich tief in Gedanken versunken.
»Ich bringe dir deinen Kakao«, verkündete sie und stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch.
Er sah auf und lächelte, aber er wirkte geistesabwesend. Ausnahmsweise lag kein Foliant auf seinem Schoß, und er saß nicht an seinem Tisch, um zu schreiben, sondern in einem Sessel am offenen Fenster. Als Neil hereingekommen war, hatte er blicklos ins Freie gestarrt.
»Es ist da - in ihm, hab ich Recht?« Neil zog einen Stuhl heran und trank von ihrem Kakao. Silvan hegte seit langem eine Vorliebe für das wertvolle Schokoladengetränk, und Neil hatte während ihrer Schwangerschaft auch Geschmack daran gefunden. »Warum erzählst du mir nicht davon, Silvan?«, ermutigte sie ihn sanft. Sie wusste, worüber er sich Gedanken machte, denn schließlich hatte sie dieselben Sorgen. Dageus mit dem großen, leidenschaftlichen Herzen und dem geheimen Schmerz war immer schon ihr Liebling gewesen. Dann wuchs er heran, und das Leben machte ihn härter. Sie hatte inständig gebetet, dass er eines Tages einem ganz besonderen Mädchen begegnen möge, so wie Drustan seine Gwen gefunden hatte - seine Gwen, die von ihrem Mann das verdammte Druidengelübde bekommen hatte!
Silvan sah Neil ernst an, und er raufte sich mit einer Hand die schneeweiße Mähne. »Nellie, was soll ich nur tun? Was ich vor sechs Monaten, bevor er uns verließ, in ihm gefühlt habe, war nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt spüre.«
»Und die Bücher, in denen du gesucht hast? Steht dort nicht, wie man sie verbannen oder für immer loswerden kann?«
Silvan schüttelte den Kopf und seufzte. »Ich habe nicht den geringsten Hinweis gefunden.«
»Hast du in allen Bänden nachgelesen?«, bohrte sie weiter. Seit dem traurigen Tag, an dem Dageus durch die Steine verschwunden war, hatte Silvan wie ein Besessener vom Morgengrauen bis zum späten Abend seine Schriften und Folianten gewälzt. Er war fest entschlossen, etwas zu Finden, was er an Drustan weitergeben konnte. Denn vermutlich würde sich Dageus später an Drustan wenden.
Doch Silvan hatte sowohl seine Turmbibliothek als auch die Bücher im Studierzimmer gründlich durchforstet.
»Hast du auch in der Bücherkammer nachgesehen?«, fragte Neil mit gerunzelter Stirn.
»Ich sagte doch gerade, dass ich im Studierzimmer alles durchgesehen habe.«
»Ich rede nicht vom Studierzimmer, sondern von der Kammer mit den Büchern.«
»Wovon sprichst du überhaupt, Nellie?«
»Von der Kammer hinter dem Studierzimmer.«
Silvan erstarrte. »Welche Kammer?«
»Der verstaubte Raum hinter dem Kamin«, antwortete Neil ungehalten.
»Welche Kammer hinter welchem Kamin?«, rief Silvan und
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