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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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schönen Stunden mit Tian wie die Fata Morgana eines Sees einen Verdurstenden. Zum ersten Mal verfluchte ich Bruder Erinnerung. Ich war elend und fiebrig, und obwohl ich versuchte, stark zu sein, war mein Innerstes ein sturmgepeitschtes Meer, in dem ich hilflos hin und her geworfen wurde: von kältestem Hass in glühendste Sehnsucht. Juniper behandelte mich, als wäre ich aus Glas, aber Amad kannte keine Rücksicht. Unbarmherzig scheuchte er mich hoch und zeigte mir, wie man die leuchtenden Köderfische mit der Harpune erbeutete. Er führte meine Hand, erklärte mir jede Drehung, jeden Schwung, und ich verstand sehr wohl, dass er mich lehrte, schnell zu sein und auf die kleinste Bewegung zu reagieren ohne nachzudenken. »Dafür, dass es nicht deine Gabe ist, habe ich schon Schlimmeres gesehen«, bemerkte er einmal. »Und jetzt stell dir vor, meine Harpune ist ihr Messer.«
    »Nicht schlecht«, rief Juniper, als es mir gelang, Amads Angriff zu parieren und ihn fast aus dem Gleichgewicht zu bringen. Vielleicht war ich doch noch eine Moreno, denn je mehr blaue Flecken ich davontrug, desto verbissener kämpfte ich. Amad setzte den Stock auf. Schwer atmend senkte ich meine Waffe und hob das Kinn, stolz, mit rasendem Herzen und schmerzenden Händen. Amad lobte mich nicht. Aber zum ersten Mal verbiss er sich einen ironischen Kommentar.
    *
    Die Kampflust und das Feuer in meinen Adern erloschen, sobald ich die Augen schloss. Nachts suchte ich nach meinen Geschwistern. Stattdessen …
    … spürte ich Tians Arme und seinen Kuss, hörte sein quälend zärtliches Flüstern an meinem Ohr. Ich stieß ihn von mir – und erkannte, dass er mein einziger Halt gewesen war. Mit einem verzweifelten Schrei rutschte ich über den Rand des Bootes. Das Wasser umfing mich in einer neuen, kälteren Umarmung. Und da waren sie, meine Lichter! Stumm betrachteten wir einander, getrennt und doch verbunden. »Warum kann ich mit euch nicht sprechen?«, rief ich. »Wie können wir uns begegnen?« Der blonde Junge blieb stumm. »Wohin gehen sie?«, wandte ich mich an Bruder Wegesucher. »Wie konnte meine Schwester uns verlassen?« Bruder Wegesucher hauchte an das Glas, das uns trennte, und zeichnete … Flügel? Krallen, einen Vogelkörper. Der Schnabel war lang und kräftig. »Rabe«, flüsterte ich. »Der … Rabenmann?« Mit einem Schaudern erinnerte ich mich an ihn, an seinen Kuss – und den Dolch in meinem Herzen. »Hat er ihnen geholfen?« Das Meer wurde zu dem grünen Marmor eines Prunkraums. Meine Geschwister veränderten sich, verschmolzen zu anderen Gestalten – Tian, der mich anlächelte, obwohl der Rabenmann hinter ihm stand und ihm ein Messer an die Kehle hielt. Die Waffe bestand aus schwarzem Metall, die Klinge hatte die Form einer Rabenfeder. »Mein schönster Stern«, sagte Tian zärtlich. Dann ruckte das Messer, durchschnitt den Schrei, der Körper zuckte und fiel. Der Rabenmann stieg über Tians Leichnam und trat auf mich zu, mit einem Lächeln voller Liebe, Blut an der Klinge und an seiner Hand.
    Nach Luft ringend schreckte ich hoch. Nie hätte ich gedacht, dass ich erleichtert sein würde, auf einem ungesicherten Boot mitten im schwarzen Ozean zu treiben, in der Nase den Geruch nach Fischblut und Salz. Über mir, ganz oben am Flaschenzug, hing der Holzkäfig mit der Grauen – in Sicherheit vor den Haien.
    Juniper hielt Wache, aufrecht, lauernd, eingehüllt in das Haileder, Seile und Waffen in Greifweite. »Du schläfst wohl nie gut, kleine Schwester«, wisperte sie. Auf allen vieren kroch sie zu mir herüber. Aus der Nähe konnte man erkennen, dass sie sich die Haihaut mit dünnen Seilen um den Körper gebunden hatte. »Wenn du schon wach bist, kannst du auch eine Weile aufpassen. Ich bin müde.«
    Ich rang immer noch nach Luft. Der Schreck hallte in mir nach. Das Bild des Rabenmannes schien noch vor mir zu schweben. Suchend sah ich mich nach Amad um und war beruhigt. Er saß auf dem anderen Bootsteil am Steuer. Im Nebel war er nur als Schemen zu erkennen. Ich fröstelte, so sehr glich er in seiner Haltung den Wesen, auf die wir warteten. »Wenn du unter Raubtieren bist, werde zu einem von ihnen«, erinnerte ich mich an seine Worte.» Höre mit ihren Ohren, sieh mit ihren Augen und sprich in ihrer Sprache, das ist deine stärkste Waffe.«
    Etwas Raues strich schabend unter dem Boot entlang. Ich krallte die Finger in meine Haihaut und zog sie enger um mich. Aber nicht einmal die Tatsache, dass ich unter dieser Tarnung auch noch

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