Der dunkle Kuss der Sterne
gründet?
»Früher gab es in Tibris noch keine Slums und keinen Sklavenhafen«, murmelte ich. »Ich habe gelesen, man nannte sie die silberne Stadt.«
Juniper nickte. »Mein Großvater hat mir noch von den Silberbrücken erzählt. Es gab Arbeiter und Diener, aber niemals war ein Menschenleben weniger wert als Geld. Die Stadt zerfällt, die Menschen verarmen, nur der Sklavenhandel blüht wie eine Algenpest …« Sie verstummte abrupt und zog die Brauen zusammen.
»Was ist?«
»Ich wundere mich nur wieder. Du weißt wirklich überhaupt nichts. Du kommst aus einer Stadt, die es nicht gibt. Dort ist alles anders. Du findest Wasser und zauberst mit Zahlen. Auch wenn du es nicht zugibst, könnte ich schwören, du hast den Dämonen deine Gaben im Tausch gegen deine Seele abgekauft. Und Amad … er hat etwas, das jeden Menschen anzieht, und wenn er mit mir spricht, dann …« Ihre Stimme wurde weich und sehnsüchtig, so viel Ungesagtes schwang darin nach, dass ich aufhorchte. »Manchmal denke ich, ihr seid beide Wesen aus einem anderen Element, die Menschengestalt angenommen haben.«
Aus einem anderen Element. Vor wenigen Wochen hätte ich genauso gedacht: Ich, die Hohe, erhaben über die Gewöhnlichen. Und Juniper, die Barbarin, die mit meinesgleichen so wenig gemeinsam hatte wie Lehm mit Gold. Aber was wäre ich ohne Gaben? Die gewöhnlichste von allen? Vielleicht würde ich nicht einmal Juniper auffallen.
»Siehst du im Nebel schon Gespenster?«, erwiderte ich. »Wir sind nur Reisende, die es in die Fremde verschlagen hat. Amad ist ein Jäger, und er liebt ein Mädchen, zu dem er zurückkehren wird.« Sooft ich es auch wiederholte – es wurde nicht besser. Im Gegenteil. Auch jetzt sank meine Laune und ich fühlte mich, als hätte ich etwas Kostbares verloren.
Juniper zog die linke Augenbraue hoch und wurde wieder zu meiner übermütigen Freundin mit der scharfen Zunge. »Scheint dir ja sehr wichtig zu sein, dass ich es nicht vergesse. Dabei interessiert ihn seine Liebste doch längst nicht mehr. Falls die Geschichte nicht ohnehin ein Märchen ist.«
»Das hoffst du wohl, Juniper?« Es sollte scherzhaft klingen, aber es kam schärfer als beabsichtigt. Was war nur mit mir los?
»Ich?« Junipers Lachen wurde vom Nebel fast verschluckt. »Du scheinst doch eine bessere Lügnerin zu sein, als ich dachte.«
»Kannst du auch so reden, dass ich es verstehe?«
»Komm schon, du Liebende aus Eisen und Stein. Dein Geliebter hat also Bronzehaar?« Sie schüttelte den Kopf und senkte die Stimme, damit Amad auch wirklich kein Wort hörte. »Ich sehe etwas ganz anderes. Du bekommst Haizähne, wenn du siehst, wie Amad und ich zusammen lachen. Sobald er in deiner Nähe ist, vergisst du deinen Kummer. Er ist der beste Kämpfer, den ich je gesehen habe, aber ausgerechnet dir gelingt es, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen – warum wohl? Weil sein Herz nicht beim Kampf ist, sondern ganz woanders. Ach ja, und: Er beobachtet dich, während du schläfst.«
Ich war so überrascht, dass es mir die Sprache verschlug. Aber dann fiel mir wieder ein, wen Amad wirklich ansah. Trotzdem wurde ich rot.
»Ich bekomme keine Haizähne!«
Juniper grinste wie eine Fledermaus und stieß mir in die Seite. »Das sind die Schlimmsten. Die Eifersüchtigen mit den gierigen gelben Augen, die sich selbst belügen.«
»Das ist genauso verrückt wie deine Vermutung, ich hätte eine Seele zu verkaufen!«
»Hast du nicht? Jeder weiß, dass viele Reisende nur deshalb in die Wüste gehen. Man sagt, die Traumdeuter weisen ihnen den Weg zu den Dämonenhöhlen. Manche sagen sogar, die Dämonen sind ziemlich praktische Wesen und nehmen auch Geld statt Seelen. Du warst in der Wüste. Und wir beide wissen, was du dort im Tausch erhalten hast. Falls du nicht ohnehin zu ihnen gehörst.«
Mit Unbehagen erinnerte ich mich an das, was die Barbaren an der Wasserstation in der Wüste erzählt hatten: von Heerführern und Söldnern, die über die Schädelstätte nach Ghan reisten und verändert zurückkehrten.
»Warum erzählst du mir nicht einfach die Wahrheit?«, fragte Juniper. »Dafür sind Freunde doch da. Oder muss ich dir auch noch erklären, was eine Freundin ist? Du hattest doch welche in Ghan?«
»Natürlich!«
»Und würdest du wenigstens ihnen erzählen, was du mir verschweigst?«
Ich machte den Mund wieder zu und schluckte. Wenn ich an Anib und Zabina dachte, fühlte ich mich ihnen immer noch so nahe wie Schwestern. Aber dann stellte ich mir vor, was
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