Der dunkle Kuss der Sterne
die Soldatenweste trug, beruhigte mich. Der Spalt zwischen den beiden Bootsteilen war nicht mehr durch Metalldornen geschützt und gähnte mir entgegen.
»Angst, Dämonenmädchen?«, zog Juniper mich auf. »Das war doch nur ein Stück Holz. Noch sind wir nicht im Küstengebiet.«
»Das weiß ich. Und ich bin keine Dämonin.«
»Natürlich nicht. Die können nämlich schwimmen.« Juniper gähnte und streckte sich lang auf den Planken aus. »Keine Sorge, der Hai, der dir an den Kragen will, muss erst an mir vorbei.«
»Fürchtest du dich nie?«
»Doch. Die ganze Zeit.« Es klang nicht scherzhaft, seit wir Tibris verlassen hatten, war Juniper verändert, ernster und nachdenklicher. Und oft fiel mir auf, dass sie jede Bewegung von Amad beobachtete – mit einem seltsam entrückten Ausdruck, der mir nicht gefiel. »Am meisten fürchte ich mich davor, dass sich kein Hai blicken lässt«, fuhr sie fort. »Du kannst dir ja vorstellen, was mein Bruder mit mir macht, wenn ich ohne Beute zurückkomme. Und recht hätte er.«
»Tut es dir leid, dass du mitgekommen bist?«
»Nein«, antwortete sie so leise, dass Amad sie nicht hören konnte. »Keine Sekunde.«
»Aber du hast dich dafür mit deiner Truppe und deinem Bruder zerstritten.«
Juniper seufzte. »Ja, schlimm genug. Aber jeder Name hat nun mal seinen Preis.«
»Ein Name?«
Sie setzte sich auf. In ihren grauen Augen irrten Goldfunken – Spiegelungen der phosphoreszierenden Fische, die sogar durch den Nebel schimmerten. »Kennst du das Gefühl, nach einem Namen zu suchen, der dir auf der Zunge liegt? Er ist zum Greifen nahe, aber du bekommst ihn nicht zu fassen und wirst fast wahnsinnig dabei, darüber nachzugrübeln. Ich habe nach etwas gesucht, seit ich meinem ersten Hai begegnet bin. Nur hätte ich dir nicht sagen können, was es war. Aber als Amad am Hafen auftauchte, da … hatte ich plötzlich die Antwort, was mich die ganzen Jahre über verfolgt hat: der Widerspruch.« Im Licht des mondgetränkten Nebels wirkte ihr Lächeln gespenstisch. Ich bildete mir ein, die Wächterschatten hinter ihr wahrzunehmen, aber es war sicher nur das schwarze Wasser, das durch den Nebel schimmerte. »Wir fangen Fische «, flüsterte Juniper. »Seit Generationen wandern die Leute aus meinem Dorf an die Küste und fischen auf dieselbe Art: mit Ködern und Netzen. Und warum? Weil das, was noch meine Urgroßeltern fingen, tatsächlich nur Fische im Meer waren: gewöhnliche Haie, Makrelen, Heringe. Bei den Haien genügte es, sie mit Ködern anzulocken, mit den Harpunen zuzustoßen und die Beute mit Netzen aus dem Wasser zu ziehen. Ihre Haut war verwundbar, ihr Fleisch genießbar, es war Teil unserer Bezahlung. Aber dann ist irgendetwas passiert. Wie ein … Schnitt, der alles in ein Davor und Danach teilte. Ab diesem Zeitpunkt haben sich Raubfische fast so schnell vermehrt wie die Sklavenquartiere. Sie verändern sich, auch in ihrem Verhalten, und seit einigen Jahren kommen sie sogar an Land. Sie sind Mischwesen geworden, die es nur in Fabeln und Märchen geben darf. Aber kein Märchen meiner Vorfahren erzählt von Haien, die Menschengestalt annehmen können. Irgendetwas muss passiert sein, verstehst du? Tiere wurden zu Wandelgestalten. Nur wir bleiben dieselben, erstarrt in dem, was wir immer schon taten. Wir benehmen uns wie Blinde, die nicht sehen, dass die Welt eine andere geworden ist, und machen weiter wie bisher. Das ist der Widerspruch. Niemand, nicht einmal ich, kam auf den Gedanken, uns anzupassen, neue Strategien zu finden. Stattdessen wird das Fischen immer gefährlicher und wir verlieren jedes Jahr mehr Leute ans Meer. Und dann kommt Amad und nennt uns Jäger . Als er das sagte, habe ich mich gefühlt wie das Opfer eines Zauberkünstlers, das endlich durchschaut, welcher Trick hinter dem steckt, was es für Magie hielt. Wir müssen aufhören zu fischen und stattdessen jagen – und die Strategien dafür liegen so nahe! Aber niemand hatte diese Idee. Und genau deshalb ist Perem so wütend geworden. Es ist, als hätte Amad Licht in einem dunklen Raum angezündet. Nur dass uns bis dahin gar nicht klar gewesen war, dass wir im Dunkeln sitzen.« Sie strich nachdenklich über ihre Tarnhaut. »Und deshalb muss ich hier sein, selbst wenn Perem nie wieder ein Wort mit mir spricht. Weil nur hier etwas geschieht: etwas Neues.«
Ich schluckte und starrte in den Nebel. Ein Schnitt. Ein Vorher und ein Nachher . Wie der Krieg, das große Chaos, auf dem unsere Stadt
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