Der dunkle Kuss der Sterne
stahl.
Amads Lippen waren ein wenig rau, aber sie gaben meinem Mund in einer Weichheit nach, die mich schwindelig machte. Ich schloss die Augen und fand hinter meinen Lidern eine andere Art der Dunkelheit – leuchtend wie die Fische im Meer. Es fiel mir so schwer, mich von diesen Lippen zu lösen, dass ich fast übersah, wie sehr ich mich getäuscht hatte.
Er schlief nicht. Seine Hand lag auf meiner Wange, sein Daumen strich sacht über meinen Mundwinkel. Selbst im Dunkeln glaubte ich den Aquamaringlanz seiner Augen zu erkennen. »Canda«, flüsterte er so zärtlich, dass es wie ein Kuss war. Dann zog er mich an sich. Und ich verlor alles: jede Erinnerung, jede Zahl, jeden Namen.
Es war anders, ganz anders als unsere Umarmung auf dem Berg, zart und doch voller Leidenschaft. Wir umschlangen uns wie Ertrinkende, die sich nicht davor fürchteten, immer tiefer zu sinken. Und wir sanken – schwerelos, Haut an Haut, in einem warmen Strom von Licht, das unsere Hände und Lippen auf der Haut des anderen entzündeten. Ich spürte seinen Atem, als wäre es meiner, unseren Herzschlag und unsere Lippen, die sich aneinander festsogen, zärtlich und wild, und so verzweifelt, als könnte diese Wirklichkeit so jäh verglühen wie eine Blume in der Glut. Ich wühlte meine Finger in sein glattes Haar und drängte mich an ihn, spürte seine Hand, die unter meinen Pullover geglitten war. Und dann verharrte die Hand, im selben Moment, als ich meine Lippen von den seinen löste, atemlos, mit pochendem Blut und einer jähen Traurigkeit, die ich erst verstand, als er mich behutsam losließ und sich aufsetzte. Sein Schattenriss ragte neben mir auf. Alles in mir wollte ihn umarmen, aber ich wagte es nicht. Wir waren längst nicht mehr allein. Die Namen kehrten zurück und auch alles andere.
»Ydrinn, ich weiß«, brachte ich mit erstickter Stimme hervor. »Hast du …«
»Hör auf!« Es klang gequält und heiser vor Verzweiflung. Und ja, Juniper hatte recht, ich war eifersüchtig. Schlimmer noch: Ich war eine Diebin mit gierigen gelben Augen, die nichts wieder hergeben wollte, was sie einmal gestohlen hatte. »Du hast meinen Kuss erwidert!«, sagte ich. »Und mehr als das, wir waren wie …« Eine Zweiheit? Es klang falsch, zu sachlich. Eine Flamme , dachte ich, ein Tanz, ein Lied. »Wie … wie kannst du mich so küssen, wenn du eine andere liebst?«
Er holte scharf Luft. »Du liebst Tian, oder nicht? Und trotzdem …«
Wie immer traf er genau die wunde Stelle. Hast du wirklich Liebeskummer, wenn du dich schon dem Nächsten an den Hals wirfst? Und wie kannst du Tian verurteilen, wenn du selbst nicht besser bist? Das hatte Amad nicht gesagt, aber ich bildete mir ein, die Vorwürfe zu hören. Aber vielleicht waren es nur meine eigenen Gedanken. Und trotzdem – unsere Nähe zitterte im Raum noch nach wie eine verklingende Melodie. Nie habe ich Tian so geküsst. Niemals war es … das.
»Liebst du Ydrinn? Ja oder nein, Amad?«
»Ja«, sagte er mit belegter Stimme. »Und du hast mir versprochen, ihr Leben zu retten. Vergiss das niemals, Canda Moreno.«
Das fühlte sich fast so gut an, wie von einem sterbenden Hai unter Wasser gedrückt zu werden. Ich schloss die Augen, weil ich nicht einmal seinen Schattenriss mehr ertragen konnte. »Verschwinde«, flüsterte ich. Ich hörte keinen Schritt, aber als ich die Augen wieder öffnete, war ich allein.
*
Die Soldatenstiefel waren nur ein wenig zu groß, sie trugen mich sicher durch die Nacht und den nächsten Tag, aus dem Gebirge in ein zerklüftetes Land von rauer Schönheit. Ein schwerer, wolkenverhangener Gewitterhimmel drückte auf hagelzerzauste Bäume. Überall schmolz noch das Kristall. Bäche von Schmelzwasser versickerten in Spalten und Furchen. Und das Plätschern vermischte sich mit dem Flüstern meiner Geschwister, das immer lauter wurde und mich Stunde für Stunde weitertrieb. Während ich wie eine Schlafwandlerin der Spur meiner Schwester folgte, spürte ich nur grenzenlose Verwirrung und eine bange Traurigkeit. Noch nie war ich so durcheinander gewesen. Amad war niedergeschlagen, er wich meinem Blick aus, und die Graue blieb dicht bei mir, als hätte sie sich bei diesem Zerwürfnis auf meine Seite geschlagen.
In der Ferne tauchten immer wieder Kolonnen und Lager auf. Rauch stieg am Horizont auf und manchmal trug der Wind Geschützdonner zu uns.
»Welcher Krieg wird hier geführt?«, fragte ich Amad, als wir rasteten.
»Das ist noch kein Krieg, es sind Trainingslager.
Weitere Kostenlose Bücher