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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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unserem Tod verschwinden Talente, Inspirationen, Funken der Schönheit und Freude und so vieles andere, was euch Menschen ausmacht. Für immer.«
    Jetzt war mir eiskalt, aber nicht wegen des Schnees. Sie sterben also. Ich brauchte Wahida nicht mehr, um mir auszurechnen, was in meiner Stadt seit einigen Jahren vor sich ging: Früher hatten alle Hohen vier Lichter, heute war diese Zahl eine Seltenheit. Und seit einigen Jahren gab es auch Hohe, die nur noch ein Licht besaßen und deshalb als missgebildet galten und oft an der Traumkrankheit starben. Lichter sterben, schwindende Ressourcen unserer Macht, aber Ghan wächst .
    »Woher weißt du das alles, wenn du von den anderen getrennt warst?«
    Wahida lächelte mir mit mildem Spott zu. »Glaubst du, wir kämpfen nicht mehr? Ja, wir sind betäubt durch eine Magie, die wir nicht abschütteln können. Aber trotzdem versuchen wir es, und manchmal tauchen wir an die Oberfläche, nehmen die anderen wahr. Wenn ihr jung seid, ist die Verbindung noch nicht fest und endgültig. So finden wir manchmal Fenster in Zeit und Raum. Wir erwachen für Augenblicke, sehen hin, verstehen, suchen nach Fluchtwegen, nach Wunden in der Weltenhaut, durch die wir entkommen könnten. Erst nach eurer Verbindung zu dem, was ihr Zweiheit nennt, sind unsere Ketten ausgehärtet. Wir sind dann wie stabile chemische Verbindungen von Molekülen und Atomen – oder wie Steine in der Mauer, die eure Zweiheit umgibt. Acht von uns plus zwei von euch ist die stabilste Verbindung. Sie dauert, bis der Tod zu euch kommt und mit seinem Kuss auch die Verbindung zu uns durchtrennt. Aber gleich darauf beginnt ein neuer Albtraum, mit einem neuen Menschen. Sobald ein Herr stirbt, wartet schon ein neuer auf uns.«
    Ich leckte mir die Lippen, die ich vor Kälte nicht mehr spürte. »Wie viele … Menschen waren es bei dir?«
    »In den ersten zweiundfünfzigkommasechsvier Jahren nur der erste Mégan«, erwiderte Wahida bitter. »Aber nach ihm … plötzlich unzählige. Ich war bei meiner neuen Herrin, bis sie in ein Haus voller Glas gebracht wurde. Und dort – wurde ich ihr entrissen. Ich blieb zwar mit ihr verbunden, schmerzhaft straff, aber ich sah nie wieder mit ihren Augen. Keine meiner Zahlen kam über ihre Lippen, sie schwieg. Stattdessen wurde ich an Fremde verkauft, für ein Jahr, manchmal für zwei. Das waren die schlimmsten Zeiten. Ich blieb an meine stumme, bewusstlose Herrin gebunden, und gleichzeitig gehörte ich anderen, die für meine Zahlen bezahlt hatten. Aber bei jedem Wechsel war es wie ein neuer Tod, der mich doch nicht ganz sterben ließ. Er schwächte mich so sehr, dass ich mir oft wünschte, endlich verlöschen zu dürfen.«
    Das verschlug mir die Sprache. Ich erinnerte mich an die Reisenden, die mit ehrfürchtigen Gesichtern zu den Türmen hochgeblickt hatten. Reisende, die keine Berater gesucht hatten, sondern … Dämonen, die ihnen gaben, was sie sich erträumten: List, Schnelligkeit, Geschicklichkeit oder andere Fähigkeiten . Und die Dämonen – das waren nicht die Wesen fremder Wirklichkeiten, sondern wir, die fünf Familien. Langsam ahnte ich, mit welcher Art von Sklaven Manoa handelte. Und nicht nur sie.
    »Ihr gehört immer zur Stadt?«, flüsterte ich. »Wenn ich in Tibris ertrunken wäre, dann wären Meon, Trinn und du …«
    »…wieder in Ghan gelandet, ja. Im nächsten Atemzug. Neue Herren warten dort schon auf uns.«
    Ich zog meine Jacke fester um meinen Körper, als könnte ich mein rasendes Herz damit schützen – vor Wahrheiten, die schlimmer waren, als ich noch ertragen konnte.
    »Deshalb sollte Amad mich also töten, wenn ich nicht zurückkehren wollte«, murmelte ich. »Für die Méganes war es nie ein Risiko, mich gehen zu lassen. Es ging wirklich nur um den Weg zu den Entflohenen.« Und spätestens wenn Amad zurück in Ghan ist, werden sich die Méganes wundern, warum ich zwar tot bin, aber meine Lichter noch nicht zurückgekehrt sind.
    Jetzt schämte ich mich, dass ich für einen Moment an Amad gezweifelt hatte.
    »Ja«, sagte Wahida. »Und wenn du Amad vertraust, solltest du ihn fragen, wie es möglich ist, dass einer von uns seinen Kerker verlassen kann.« Vielsagend hob sie die linke Augenbraue. »Wenn es einer weiß, dann doch er! Und wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mich fragen, woher.«

Heute wäre es mir falsch vorgekommen, bei den Lichtern zu bleiben. Ich konnte verstehen, wie froh sie waren, endlich ohne mich zu sein, und trotzdem kam ich mir vor wie

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