Der dunkle Kuss der Sterne
eine Verstoßene. Wahida hatte mir Decken und etwas vom Proviant der Garde gebracht. Sie vermisste ich am meisten von den vieren. Ich wandte mich mit dem Gesicht zur Wand und drehte Medas Ring an meinem Finger. Ein bisschen war es so, als könnte ich mit dem Ring auch Amad berühren. Die Intarsien der silbernen Wellen leuchteten im Dunkeln. Der Ring einer toten Königin , dachte ich niedergeschlagen. Von einer Moreno hinterrücks ermordet. Nun, heute brauchten wir dafür keine Pfeile mehr, uns genügten Füller mit silbernen Federn.
»Wir Morenos blicken stets voraus und wie Vögel im Flug weiter als die anderen – bis zu den Sternen!« Meine Mutter war besonders stolz auf dieses Familienmotto gewesen.
Jetzt wünschte ich mir, niemals mit Trinn verbunden gewesen zu sein. Aber Vergessen war eine Gnade, die ich nicht hatte.Ich schloss die Augen und betrachtete mich selbst, sechs Jahre alt, in einem Arbeitszimmer, in dem es nach Siegellack und parfümierter Tinte roch. Hörte das Kratzen der Füllerfedern auf rauem Papier, als meine Eltern völlig synchron Dokumente unterschrieben. Meine Mutter kam aus dem Takt und hob den Kopf. Sie entdeckte mich, zu ungeschickt hatte ich mich hinter einem Vorhang versteckt, mein Fuß ragte hervor. Meine Mutter rief eine Dienerin, die mich hinausbringen sollte. Aber trotz ihrer Schelte und Strenge schenkte sie mir ein kleines, kopfschüttelndes Lächeln, bevor die Tür hinter mir zuschlug. Dieser kleine Moment der Zärtlichkeit war nun wie ein Stich.
Wie unter einem Vergrößerungsglas lief eine andere Szene aus meiner Vergangenheit ab: Ich, elf Jahre später, auf der Flucht im Haus der Verwaisten. Wie ich auf der Suche nach einem Schlüssel Marams Schubladen durchwühlte und nur Dokumente fand, unterschrieben von meinen Eltern. Damals hatte ich die Papiere nicht weiter beachtet. Aber jetzt erzählten sie mir mehr über meine Stadt als unsere ganze Bibliothek: Verträge. Fremdartig klingende Namen waren darauf verzeichnet gewesen. Ziffern waren ihnen zugewiesen. Lichter hatten in Ghan keine Namen, aber jedes von ihnen konnte offenbar mit einer Nummer identifiziert werden. Siegel fremder Städte und Unterschriften in brauner Tinte prangten auf den Dokumenten, und wie bei Mietverträgen waren neben den Nummern Zeiten festgesetzt – Monate, manchmal auch Jahre. Die sachliche Stimmer meiner Mutter klang mir im Ohr. » Eine Moreno spinnt ihre Fäden und bringt Armeen zu Fall mit einem Wort, einem Versprechen, einer Strategie, einem Handel.«
Im Geiste blickte ich von oben auf meine Stadt, auf die Ringmauern und die Tore, in jeder Mauer fünf. Ich verband die Tore vom Zentrum aus mit Linien, führte sie auf der Landkarte weiter. Sie mündeten in die großen Städte, Tibris, Kaman und drei andere. Die Ringmauern und Linien wurden zu den silbernen Fäden eines perfekten Spinnennetzes, das sich Rad um Rad weiter ausbreitete, Land für Land eroberte. Und das Zentrum war der eiserne Turm in der namenlosen Stadt der Dämonen, Machtsitz der Méganes. Namenlos und gut versteckt wie eine Spinne, die sich vor ihrer Beute gut verbarg, bis es zu spät war: Damals, als ich mit Amad von den Bergen aus in die Wüste zurückgeblickt hatte, war es mir nicht aufgefallen, aber jetzt erinnerte ich mich nur zu gut, was ich am Horizont nicht gesehen hatte: Von außen betrachtet, war die Wüste leer.
Wer unsichtbare Kerker in einer anderen Wirklichkeit baut, kann auch unsichtbare Ringmauern schaffen , dachte ich. Die Geisterberge sind Niemandsland, die Menschen wagen sich nicht dorthin – und eine unsichtbare Mauer trennt die Berge vom Gebiet dahinter, der Bergkirche und dem Land bis zum Meer und weiter. Kein Wunder, dass niemand unsere Stadt kannte außer denen, die innerhalb ihres Tarnkreises lebten. Oder Reisende , setzte ich mit einem Schaudern hinzu, die in der Wüste nach den Dämonen suchen, die ihnen Gaben auf Zeit verkaufen. Und im Gegenzug machen sie uns reich, führen unsere Eroberungskriege und helfen uns dabei, neue Fäden zu spannen.
Und gerichtlich genehmigt war die Vergabe der Lichter auf Zeit von meinen Eltern. Jetzt weinte ich doch so sehr, dass es mich schüttelte. Ich hasste und vermisste meine Mutter und meinen Vater so sehr, dass es wehtat. Wer seid ihr wirklich? , dachte ich. Und wer wäre ich geworden, als Mégana, oder auch nur als Hohe, die das Geheimnis unserer Macht kennt? Eine von ihnen?
*
In dieser Nacht erfuhr ich, wie es war, so zu träumen wie die Menschen außerhalb
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