Der dunkle Kuss der Sterne
eine Gabe, die ebenso stark war wie jede einzelne von den unseren: Er konnte mit den Augen anderer sehen. Und er hatte mich schon in dem Augenblick durchschaut, als ich selbst nur ahnte, dass ich der Stadt nicht mehr ganz gehörte. Trotzdem hat er vor der Mégana geschwiegen .
Ich wich nicht zurück, als er sich zu mir beugte, so nah, dass ich wieder seinen Duft von Rauch und Wüstenwind wahrnehmen konnte. »Unterschätze deine Herrscher nicht, Canda«, raunte er mir zu. »Das haben schon Mächtigere als du getan.«
Die verächtlichen Worte der Frau kamen mir in den Sinn. »Sogar Könige und Heerführer aus den fernsten Ländern klopfen als Bittsteller an ihre goldenen Türen, bereit, ihre Seelen für eine Rache oder Macht zu verkaufen.«
»Sprichst du von dir? Worum ging es bei deinem Handel mit der Mégana?«
»Woher willst du wissen, dass ich gehandelt habe?«
»Offenbar bist du ja kein Sklave – aber frei bist du auch nicht.«
»Bist du es?«, fragte er ernst.
Nie hätte ich zugegeben, dass mir diese Frage einen Stich gab. »Lenk nicht ab, um mich geht es hier nicht. Die Mégana sagte, dein Blut ist an sie verschuldet.«
»So wie deins.«
Eben noch hatte ich gedacht, wir hätten die Rollen getauscht, aber mühelos hatte er es geschafft, wieder in die Position desjenigen zu kommen, der mich in die Enge trieb. Heftig schüttelte ich den Kopf. »Hör auf. Das … das ist etwas ganz anderes!«
»Wirklich, Canda?«, fragte er so sanft, dass ich fröstelte.
Ich wollte widersprechen, aber die Stichwunde in meiner Handfläche schien wieder zu pochen.Rasch schob ich meine Faust tief in die Köchertasche, aber die Erinnerung an mein Blut, das in die Flamme fiel, ließ sich nicht so einfach wegdrängen. Amads Stimme war nur noch ein Raunen im Wind. »Selbst wenn du Tian seine Tat verzeihst, mir im Schlaf den Dolch ins Herz jagst und mit ihm ans Ende der Welt fliehst, sie werden euch finden und dich zwingen, dein Versprechen einzulösen.«
»Das brauchen sie nicht. Weil Tian unschuldig ist.«
»Wenn du da so sicher bist – warum wolltest du unbedingt alleine in die Wüste gehen? Und warum hältst du mich für deinen Feind, statt froh zu sein, dass ein Sucher an deiner Seite ist?«
Dazu fiel mir keine Antwort ein. Und das erschreckte mich fast noch mehr als Amads Worte. Die Graue hatte uns eingeholt. Sie kam hechelnd zu mir und suchte nach meiner Hand, aber ich konnte mich nicht rühren.
»Hat die Mégana dir befohlen, Tian zu töten?« Ich schämte mich dafür, dass meine Stimme fast versagte.
»Ihn zu töten ist deine Aufgabe«, erwiderte er ruhig. »Meine ist es, dich zur Mégana zurückzubringen. Und das muss ich, Canda Löwenseele, koste es, was es wolle.«
Es war keine Drohung, nicht einmal eine Warnung. Vielmehr hatte ich den Eindruck, dass etwas Hoffnungsloses in seinem Tonfall mitschwang.
Lass dich nicht von ihm einwickeln , zischte die ängstliche Stimme in mir. Traue ihm nicht!
»Warum, Amad? Du könntest doch fliehen und mich zurücklassen. Dann wäre wenigstens einer von uns frei.«
Er lächelte schmerzlich. »Das wäre so einfach, nicht wahr? Aber bei einem Versprechen, das mit Blut besiegelt wird, geht es immer um Leben und Tod.«
»Eben war dir dein Leben noch sehr wenig wert.«
Sein Lächeln verschwand. Er biss die Zähne zusammen und schwieg. Der Wind hielt inne, als hätte die Zeit ausgeatmet. Aber mein Herz schlug immer noch und der Ring drückte mit jedem Pochen schmerzhaft gegen meine Fingerknöchel. Ich stutzte. Und plötzlich brauchte ich seine Antwort nicht mehr. Geht es etwa gar nicht um dein Leben, Amad?
»Wozu sollte ich ein Herz brauchen?« , hörte ich seine Worte. » Es stört nur bei der Jagd.« Er war wirklich ein viel besserer Lügner als ich. Aber der Ring erzählte etwas völlig anderes. Mühelos war er vorhin auf meinen kleinen Finger gerutscht, genau passsend. Weil er für den Ringfinger einer Frau gemacht war? Einer, die kleiner und zierlicher war als ich, ein Mädchen mit schmalen Händen. Amad hatte also einem Mädchen versprochen, zurückzukehren. Meine Mutter wäre stolz auf mich gewesen – vielleicht hielt ich die Schwäche meines Gegners in meiner Hand.Aber im Augenblick war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob wir Gegner waren. Die Mégana ist klug. Sie weiß, dass Liebende zu allem fähig sind, wenn es um das Leben der Geliebten geht.
Der Schatten eines Vogels huschte über das Pferd und machte es nervös. Ein Falkenschrei durchschnitt das
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