Der dunkle Kuss der Sterne
löste sich vom Fensterstock, schlug auf, barst irgendwo in der Tiefe.
»Smila?« Junipers besorgter Ruf drang von draußen herein.
»Alles in Ordnung«, schrie ich.
Der Raum war eine Ruine – eine Lawine aus Backsteinen hatte die einzige Tür vor langer Zeit verschüttet, ein dürrer Baum wuchs schräg durch ein Loch in der Decke. Dahinter stand ein großes, unversehrtes Marmorbecken an der Wand. Der Wasserhahn musste schon vor langer Zeit abgebrochen sein. Und Tians Gegenwart war zum Greifen nah. Vorsichtig tastete ich mich dicht an der Mauer entlang, bis ich das Becken erreichte. Wie früher, als wir uns versteckt hatten, suchte ich nach Tian, flüsterte seinen Namen. Aber niemand hatte diesen Raum betreten, nur Mäusespuren schrieben Geschichten in den fingerdicken Staub. Und trotzdem: Tian war hier, so nah, dass ich fast verrückt wurde.
Ein Haufen vertrockneter Blätter lag im Becken. Ich vergewisserte mich mit dem Stock, dass keine Schlange sich darunter verkrochen hatte, kletterte hinein und sprang zur Wand. Der erste, vorsichtige Schlag mit einem Stück Backstein sprengte eine verkalkte dünne Platte ab. Der zweite Schlag traf fester, der dritte ließ Kalk und Schmutz regnen. Aber die Enttäuschung kam ebenso schnell. Die Wand klang an keiner Stelle hohl, es gab keine geheime Tür, nur ein altes Wandbild. Beziehungsweise Fragmente davon. Noch halb unter uraltem Sediment von Schlamm und Schmutz verborgen war ein grüner Edelstein in die Wand eingefügt. Es war die Iris eines Auges, der Freskomaler hatte darüber den launischen Schwung einer schmalen Braue perfekt ausgeführt. Die Zeit hatte den größten Teil des Freskos zerfressen, das Gesicht war nicht mehr erkennbar, der zweite Smaragd fehlte. Aber auch ohne die gezeichnete Frau zu sehen, wusste ich, dass ihre Schönheit so stechend und klar wie die Sonne war, dass sie mit einem Lächeln Herzen gewann und Männer für sie Kriege begonnen hätten. Ein weißer Schwung zeichnete die Linie von Haaren neben der Braue nach. Die Farbe war ausgebleicht, früher musste es lichtgoldenes Blond gewesen sein. Es war gespenstisch. Ich hatte Tian gesucht und dieses Mädchen gefunden. Eine Botschaft? Soll es mir zeigen, wem die Entführerin ähnelt? Aber dafür müsste Tian das Bild gesehen haben – und er war doch nicht hier gewesen, sondern wurde in den Süden gebracht.
Ich bearbeitete die Wand weiter mit dem Stein, dann versuchte ich die Krusten von altem Schmutz mit dem Stock abzukratzen. Schließlich machte ich mit bloßen Händen weiter, wischte mit Fingern und Ärmeln. Eine bestickte Borte kam zum Vorschein, der Saum eines ehemals grünblauen Gewandes, ein verblichener Flügelärmel, kaum noch erkennbar, aber trotzdem traf es mich wie ein Schlag.
Ich stolperte ein paar Schritte zurück und sackte auf den Beckenrand. Aus der Entfernung fügten sich die Bruchstücke zu einem Bild. Das Fresko stellte ein Mädchen in einem Mantelkleid dar. Mein antiker Hochzeitsmantel.
Wenn ich nicht schon gesessen hätte, jetzt hätten meine Beine mich nicht mehr gehalten.
In den Händen trug die Fremde eine verkrustete graue Scheibe, es wirkte, als hielte sie einen verschatteten Mond. Ihre blasse Hand ragte aus dem Ärmel hervor, ein Handgelenk war erkennbar – und auf dem Unterarm ein rundes Symbol, das leider zu verwaschen war, um Einzelheiten zu erkennen. Es erinnerte an eine Wüstenblume. Die Farbe war zu einem zarten Grau verblasst, aber ich hätte schwören können, dass es früher blau gewesen war. Morenoblau?
»Wer bist du?«, flüsterte ich. Die Schönheit blickte hochmütig auf mich herab und schien mich zu verspotten. Und obwohl es widersinnig war, verschmolzen in meiner Vorstellung die Entführerin und dieses Abbild zu einer Person. Meine Hand schmerzte, so fest drückten sich die Bruchkanten des Backsteins in meine Finger.
»Du bekommst ihn nicht«, zischte ich. »Ich werde dich finden. Und wenn du Tian etwas angetan hast, bringe ich dich um!«
So? , schien der Smaragdblick zu antworten. Träum weiter von deinen Sternen, hässliche farblose Kröte!
Ich sprang auf, holte aus und schmetterte den Steinbrocken mit aller Kraft gegen die Wand. Werfen war eindeutig nicht meine Gabe, und der Brocken war zu schwer, er traf nicht das Auge, sondern den Rand des Mondes. Es knackte wie eine Eierschale.
»Was zum Henker treibst du da oben?«, schrie Juniper. »Komm sofort runter!«
Die Wand schien ächzend Atem zu holen. Irgendwo tief im Stein klackte und knirschte
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