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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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im Freien zu stehen. Es roch nach Berg und Weite. Aber sicher hat es hier geduftet. Nach … Sandelholz und Lavendel.
    Ich wagte mich ein Stück weiter, ging den gewundenen Flur entlang. Unter Schmutz und Staubkrusten erahnte ich uralte Fresken. Im Vorübergehen strich ich mit den Fingerspitzen über ein verstaubtes Männergesicht, dessen Augen nur noch leere Löcher waren. Amethyste , dachte ich. Sie sind vor langer Zeit gestohlen worden, vielleicht haben Junipers Ahnen sie zu Geld gemacht. Dieses Gesicht hatte einst violette Juwelenaugen. Aber woher weiß ich das?
    Hinter mir sprang Juniper durch das Fenster wieder in den Raum. Die schwarzen Flügel eines großen Vogels zuckten noch, aber sein Kopf pendelte leblos hin und her. Juniper löste einen Holzbügel, der dem Tier das Genick gebrochen hatte, und legte die Beute auf den Boden. »Styxmöwen. Schmecken wie Schuhsohlen, aber sie sind besser als nichts. He, wo willst du denn hin?«
    »Nach oben. Ich will mich umsehen.«
    »Die Türen, die wir mit weißen Kreuzen markiert haben, sind tabu«, rief sie mir hinterher. »Die alte Kirche ist nämlich ein hinterhältiges Monstrum, das Besucher hasst. Wenn du einen falschen Schritt machst, lässt sie dich durch morsche Böden in den Abgrund fallen.«
    *
    Tatsächlich prangte über fast jeder Tür ein weißes Kreidekreuz. Dahinter fehlte der Boden zum Teil völlig – und schon meine Nähe brachte Staub zum Rieseln. Ich hätte Angst haben müssen, aber immer noch war es, als würde ich mich in einem Traum bewegen, den ich schon viele Male geträumt hatte. Ich rannte fast, unter meinen Sohlen kühler, zerkratzter Marmor. Der Weg endete in einer Sackgasse, einer Kammer mit nur einem Fenster. In der Ferne erblickte ich einen diesigen Streifen von dunklem Grünblau – vielleicht das Meer? Ich lehnte mich aus dem Fenster und spähte an den Wänden entlang, versuchte das Gebäude zu erfassen. Die Kirche hatte eine seltsame Architektur: einige große Erkersäle, umrahmt von einem Wabenwerk kleiner Räume, das Dächermeer fächerte sich am Fels auf wie eine Ansammlung von Pilzen an einem Stamm. Schräg unter mir balancierte Juniper flink wie eine Seiltänzerin auf einer Abbruchkante entlang zu einer Falle, in der noch eine Möwe mit einem lahmen Flügel zappelte. Nur wenige Zentimeter rechts von Juniper ging es Hunderte von Metern in den Abgrund. Mir wurde schon beim Zusehen flau im Magen, aber das Mädchen schien nicht einmal schneller zu atmen.
    Lauer Abendwind spielte in meinem Haar. Unter meinem Fenster zog sich der Rest einer steinernen Balustrade an der Außenmauer entlang. Und wieder war da so etwas wie ein Kribbeln der Erwartung, als würde ich mich Schritt für Schritt in das Erinnern zurücktasten. Jetzt hätte ich viel dafür gegeben, meine verrückten Stimmen zu hören, aber seit gestern Nacht schwiegen sie, als hätte etwas sie vertrieben.Ich zögerte, aber schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und kletterte nach draußen. Mit dem Gesicht zur Mauer schob ich mich weiter um den Erker herum. Steine fehlten im Mauerwerk, scharfe Bruchkanten und Steinchen bohrten sich in meine Sohlen. Oft klopfte ich erst mit dem Schlangenstock auf eine Stelle, um die Festigkeit zu prüfen, berechnete die Gewichtsverteilung pro Quadratzentimeter, bevor ich mich weiterwagte. Die Balustrade führte an schmalen Fenstern vorbei. Die Kammern, die sich dahinter reihten, mussten Schlafräume gewesen sein – sie erinnerten mich an die Zellen im Haus der Verwaisten. Nur dass die Waschbecken hier ehemals aus Malachit und die Betten aus Steinblöcken bestanden hatten, Trümmer lagen noch herum. Am Ende der Balustrade erreichte ich ein zerbrochenes Rundfenster. Auch auf dem Fensterbrett prangte ein weißes Kreuz.
    Das Wiedererkennen war so deutlich, als hätte ich eine alte Fotografie hervorgekramt, die ich als Kind oft betrachtet hatte. Vorsichtig strich ich mit dem Zeigefinger über einen Scheibensplitter, der am Fenster wie ein einzelner Zahn hervorstand. Die Staubkruste ließ sich leicht abreiben. Zum Vorschein kam strahlend gelbes Glas, das im Abendrot glühte wie der Mitternachtswein. Und plötzlich wusste ich, was mich hergeführt hatte. Jetzt raste mein Herz, als hätte ich Fieber. »Tian? Bist du hier?«, flüsterte ich in den Raum.
    Etwas erwachte in mir und antwortete ohne Stimme, lockte mich, zog mich mit aller Sehnsucht weiter. Trockene Flechten federten unter meinen Füßen, als ich mich in den Raum gleiten ließ. Ein Stein

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