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Der dunkle Schirm

Der dunkle Schirm

Titel: Der dunkle Schirm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip K. Dick
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immer wieder hinunter auf die Tiere des Bauern. Eines Tages schließlich rief der Bauer alle seine Söhne und die Freunde seiner Söhne zusammen und sie stellten sich rund um den Baum auf und warteten darauf, dass der schwarzweiße Wolf heruntersprang. Schließlich stürzte sich der Wolf tatsächlich auf ein Tier und da wurde er von ihnen erschossen.«
    »Oh, das ist aber schlimm.«
    »Doch sie retteten den Pelz. Sie häuteten den großen schwarzweißen Wolf und bewahrten seinen wunderschönen Pelz auf, damit jene, die nach ihnen kamen, sehen konnten, wie er ausgeschaut hatte, und ihn in all seiner Kraft und Herrlichkeit bewundern konnten. Und zukünftige Generationen erzählten sich voller Ehrfurcht die vielen Geschichten, die sich um seine Tapferkeit und seine Würde rankten, und sie beweinten seinen Tod.«
    »Warum haben sie ihn dann erschossen?«
    »Es musste sein. Wölfe wie ihn muss man erschießen.«
    »Kennst du sonst noch irgendwelche Geschichten? Schönere?«
    »Nein, das ist die einzige Geschichte, die ich kenne.« Und er saß da und erinnerte sich daran, wie sehr der Wolf seine überlegenen Fähigkeiten genossen hatte und was für ein gutes Gefühl es gewesen war, sich immer wieder mit diesem geschmeidigen Körper vom Baum herunterzustürzen. Doch jetzt gab es diesen Körper nicht mehr, sie hatten den Wolf erschossen. Und das wegen ein paar magerer, kraftloser Tiere, die ohnehin geschlachtet und dann gegessen wurden. Natürlich – und das mochte auf seine Weise auch etwas Gutes sein – schleppten sich diese Tiere immer irgendwie vorwärts. Der schwarzweiße Wolf jedenfalls hatte sich nie beklagt, hatte nichts gesagt, nicht einmal, als sie ihn erschossen. Seine Klauen waren tief in seine Beute vergraben gewesen. Aus keinem besonderen Grund. Weil das eben seine Art war und er es gerne tat. Er konnte sich nicht anders verhalten. Und schließlich erwischten sie ihn eben.
    »Ich bin der Wolf«, rief Thelma nun und sprang ungeschickt durch den Raum. »Wuff, wuff!« Sie schnappte nach verschiedenen Gegenständen, verfehlte sie jedoch alle, und er erkannte zum ersten Mal, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung war, und das erfüllte ihn mit einer unbestimmten Angst. Wie konnte es so etwas nur geben?
    »Du bist kein Wolf«, sagte er.
    Trotzdem sprang sie weiter herum, am Rand des Wahnsinns, darüber hinaus. Er fragte sich, wie…
     
    Ich unglücksel’ger Atlas! Eine Welt,
    Die ganze Welt der Schmerzen, muss ich tragen,
    Ich trage Unerträgliches, und brechen
    Will mir das Herz im Leibe.
     
    … ein solches Maß an Leid existieren konnte. Er ging weg. Hinter ihm spielte sie weiter, strauchelte, fiel hin. Was empfand sie wohl dabei?, fragte er sich.
     
    Er wanderte den Korridor entlang, auf der Suche nach dem Staubsauger. Es war ihm aufgetragen worden, das große Spielzimmer zu saugen, in dem die Kinder den größten Teil des Tages verbrachten.
    »Den Gang hinunter rechts.« Jemand wies ihm den Weg. Earl.
    »Danke, Earl«, sagte er.
    Als er vor der geschlossenen Tür stand, wollte er eigentlich erst klopfen, doch dann öffnete er sie einfach so.
    In dem Raum stand eine alte Frau, die drei Gummibälle in der Hand hielt, mit denen sie jonglierte. Ihr graues, strähniges Haar hing ihr bis auf die Schultern. Sie trug weiße Sportsöckchen und Tennisschuhe. Sie wandte sich ihm zu und grinste ihn zahnlos an. Er sah, dass ihre Augen tief in den Höhlen lagen. Eingesunkene Augen, grinsender, leerer Mund.
    »Kannst du das auch?«, schnaufte sie und warf die Bälle hoch in die Luft. Sie fielen herab, trafen sie, sprangen dann auf den Fußboden. Sie beugte sich über die Bälle und lachte. Aus ihrem Mundwinkel tropfte Speichel.
    »Nein.« Er stand einfach nur da, zutiefst erschreckt.
    »Aber ich.« Das dünne alte Geschöpf, dessen Armgelenke bei jeder Bewegung knackten, hob die Bälle wieder auf, blinzelte und versuchte es einmal mehr.
    Jemand erschien in der Tür und stellte sich neben ihn, um ebenfalls zuzuschauen.
    »Wie lange übt sie schon?«, fragte er.
    »Ganz schön lange«, sagte der andere und rief ihr zu: »Versuch’s noch mal. Bald hast du’s raus!«
    Die Frau gackerte, beugte sich runter und tastete nach den Bällen.
    »Einer ist da drüben«, sagte der Mann neben ihm. »Unter dem Nachtkasten.«
    »Oh!«, keuchte sie.
    Sie sahen zu, wie die Frau immer neue Versuche startete – die Bälle fallen ließ, die Bälle wieder aufhob, die Bälle hoch in die Luft warf und sich krümmte, wenn sie auf sie

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