Der dunkle Schirm
tragen.«
»Normalerweise«, erläuterte der andere Psychologe,
»benutzt jeder Mensch die linke Hemisphäre. Das Ego, das Ich-Bewußtsein, hat dort seinen Sitz. Sie ist dominant, weil in eben dieser linken Hemisphäre auch stets das Sprachzentrum lokalisiert ist; oder, um es präziser auszudrücken: Die Zweigeteiltheit des Gehirns manife-stiert sich vor allem darin, daß die Sprachfähigkeit – be-ziehungsweise das Potential für den Spracherwerb – in der linken und die räumlichen Fähigkeiten in der rechten Hälfte verortet sind. Die linke Hemisphäre kann mit ei-359
nem Digitalcomputer verglichen werden, die rechte mit einem Analogcomputer. Daher führt die bilaterale Funk-tionsweise des Gehirns nicht zu einer einfachen Ver-dopplung; beide Perzeptionssysteme registrieren und verarbeiten die hereinkommenden Daten auf unterschiedliche Weise. Bei Ihnen jedoch ist keine der beiden Hemisphären dominant; sie ergänzen einander nicht, kompensieren nicht die funktionalen Defizite der jeweils anderen Hemisphäre. Die eine Hälfte gibt Ihnen eine Information, die andere Hälfte eine andere.«
»Das ist ungefähr so, als hätten Sie in Ihrem Wagen zwei Tankanzeiger«, sagte der andere Mann, »und einer davon würde anzeigen, daß der Tank voll ist, wohinge-gen der andere auf ›leer‹ steht. Beide Anzeigen können nicht gleichzeitig zutreffen. Die Informationen liegen im Widerstreit miteinander. Aber es ist – in Ihrem Fall –
nicht so, daß einer der Tankanzeiger funktioniert und der andere nicht; vielmehr … Also noch mal anders rum.
Beide Tankanzeiger überwachen genau die gleiche Men-ge Benzin: das gleiche Benzin, den gleichen Tank. Sie testen sozusagen das gleiche Ding. Sie als Fahrer haben nur eine indirekte Beziehung zum Benzintank, nämlich vermittelt über die Benzinuhr, oder, in Ihrem Fall, die Benzinuhren. Tatsächlich könnte der Tank sogar völlig leer sein, und Sie würden nichts davon wissen, bis eine Anzeige auf dem Armaturenbrett es Ihnen mitteilt oder der Wagen schließlich stehenbleibt. Es sollte nie zwei Benzinuhren geben, die einander widersprechende Informationen liefern, denn sobald dieser Fall eintritt, können Sie überhaupt kein Wissen mehr über den Zustand 360
erlangen, auf den sich diese Informationen beziehen. Das ist nicht dasselbe, als hätten Sie zwei Benzinuhren, eine reguläre und eine als Reserve, und die Reserveuhr immer dann einspringt, wenn die reguläre ausfällt.«
Fred sagte: »Und was bedeutet das Ganze also?«
»Ich bin mir sicher, daß Sie das schon wissen«, sagte der Psychologe zur Linken. »Sie haben es am eigenen Leibe erfahren, ohne zu begreifen, woran es lag und was es war.«
»Die beiden Hemisphären meines Gehirns konkurrie-
ren miteinander?« sagte Fred.
»Ja.«
»Warum?«
»Substanz T. In funktioneller Hinsicht bewirkt sie das oft. Das war es, was wir erwartet hatten; das war es, was der Test uns bestätigt hat. Die für gewöhnlich dominante linke Hemisphäre ist geschädigt, und die rechte Hemisphäre versucht fortwährend, die durch diese Schädigung bedingten Ausfälle zu kompensieren. Aber die nun paarweise auftretenden Gehirnfunktionen verschmelzen nicht zu einem einheitlichen Ganzen, weil dieser Zustand ab-norm ist, da der Körper für so etwas nicht ausgelegt ist.
So etwas könnte normalerweise nie eintreten. Wir nennen das Überkreuz-Überlagerungen. Ein mit dem Spaltungs-irresein verwandtes Phänomen. Wir könnten natürlich eine rechtsseitige Hemisphärektomie durchführen, aber –«
»Wird das wieder weggehen«, unterbrach ihn Fred,
»wenn ich von Substanz T runterkomme?«
»Möglicherweise«, sagte der Psychologe zur Linken
nickend. »Es ist eine funktionale Störung.«
Der andere Mann sagte: »Es könnte auch eine organi-
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sche Schädigung sein. Es könnte irreversibel sein. Das wird sich erst im Laufe der Zeit herausstellen, und zwar erst dann, wenn Sie schon lange von Substanz T runter sind. Und zwar vollständig.«
»Was?« sagte Fred. Er verstand die Antwort nicht –
lautete sie ja oder nein? War er für immer geschädigt oder nicht? Was hatten sie denn nun eigentlich gesagt?
»Und selbst wenn es ein Schaden am Gehirngewebe
ist«, sagte einer der Psychologen, »sollten Sie die Hoffnung nicht aufgeben. Derzeit laufen Experimente zur operativen Entfernung kleiner Gewebeabschnitte aus
beiden Hemisphären, um so konkurrierende Verarbei-
tungsprozesse im Bereich der Gestaltwahrnehmung nachhaltig abzustellen. Es wird
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