Der dunkle Spiegel
Kapitel
Die kleine Pfarrkirche, die sich an das Kloster von Groß St. Martin schmiegte, war gut besucht. Dicht an dicht drängten sich die Gläubigen, überwiegend Handwerkerfamilien und kleine Gewerbetreibende, in ihrem Sonntagsstaat. Die Frauen trugen meist schlichte Hauben, aufwändigen Putz gab es selten, auch bunte Kleider waren nur einige wenige zu sehen. Viele schienen andächtig der Messe zu lauschen, aber an einigen Stellen gab es auch Getuschel und leises Lachen. Durch das strenge Rautenmuster der schmalen, bleiverglasten Fenster drang das Licht in langen Streifen ins Innere der Kirche. Große Helligkeit erzeugte die Sonne allerdings nicht, und die beiden dicken Wachskerzen rechts und links des Altars mussten dem schwarz gewandeten Mönch helfen, die Schrift zu verlesen.
Die sommerliche Wärme, die Weihrauchschwaden, das gedämpfte Licht und die eintönig vorgetragenen Psalmen lullten Almut Bossart in einen wohligen Halbschlaf. Immer wieder sank ihr grau verhüllter Kopf auf die Brust, und ebenso oft weckte sie ein freundschaftlicher Rippenstoß ihrer Nachbarin wieder auf.
Sie hatte die Nacht weitgehend ohne Schlaf verbracht, denn Elsa, die Apothekerin, litt an einem heftig schmerzenden Zahn, und sie, Almut, hatte einen der geheimnisvollen Prozesse überwachen müssen, in denen Elsa ihre Elixiere und Heilmittel herstellte. Natürlich gab es da noch ihre Helferin Trine, eine fleißige und gelehrige Dreizehnjährige, aber aus gutem Grund konnte man ihr nicht die Aufsicht über Arbeiten anvertrauen, in denen Feuer eine Rolle spielte. Sie hatte nämlich die unausrottbare Neigung, alles auf seine Wirkung als Räuchermittel zu untersuchen, von harmlosen getrockneten Kräutern über wertvolle Gewürze bis hin zu den zipfeligen Enden ihrer eigenen Zöpfe. Kurz und gut, Almut hatte vor dem Alambic gesessen und beobachtet, wie sich Tröpfchen für Tröpfchen der klaren Lösung in dem Auffanggefäß sammelte. Hin und wieder gab sie ein Bündel Kräuter hinein – Lavendel, hatte ihr Elsa gesagt – und ließ den Vorgang sich wiederholen. Es war keine unangenehme oder gar schwere Arbeit, sie verlangte jedoch Aufmerksamkeit.
Die Nacht hatte Elsa keine Erleichterung gebracht, am Morgen war die Wange geschwollen, und sie musste sich stöhnend mit einem feuchten Tuch die Gesichtshälfte kühlen. Almut verließ sie mit dem Versprechen, nach der Messe eine Arznei-Phiole bei dem Weinhändler de Lipa am Mühlenbach abzuliefern.
»Dem scheint wirklich das Hirn in den fetten Bauch gerutscht zu sein!«, murrte ihre Nachbarin unwillig.
»Mh?«
Almut schreckte aus einem verträumten Dämmern auf, in dem blühende Felder und ein reiches Mahl unter schattigen Bäumen eine Rolle gespielt hatten, und lauschte widerstrebend der Predigt. Sie war nicht dazu angetan, erhebende Gefühle in ihr zu wecken. Flüsternd wandte sie sich an ihre Nachbarin: »Stimmt, Clara. Pater Leonhard war zwar der langweiligste Prediger unter Gottes Sonne, aber diese Schmalzkugel fängt an, auch mich zu ärgern!«
»Almut, sei still. Du bringst dich nur wieder in Schwierigkeiten!«, zischte Gertrud vernehmlich in ihre Richtung.
Insgesamt zehn grau gewandete Frauen, die zu einem kleinen Beginen-Konvent am Eigelstein gehörten, knieten in andachtsvoller Haltung in der dritten Reihe der kleinen Pfarrkirche, die nach der Heiligen Brigid hier in Köln St. Brigiden hieß. Als Priester war für sie einer der Mönche des nebenan liegenden Benediktinerklosters zu Groß St. Martin zuständig. Die Messe hätten die Beginen aber normalerweise in einer kleinen Pfarrkirche am Rhein besucht, doch da sich der Erzbischof und die Stadt mal wieder in den Haaren lagen, hatten sich einige der Kleriker, unter ihnen auch Pater Leonhard, zu ihm gesellt und warteten jetzt in Bonn ab, wie sich die Lage weiter entwickelte. Damit sie jedoch weiterhin nicht auf den Kirchgang verzichten mussten und geistlichen Rat finden konnten, hatte die Meisterin der Beginen bestimmt, dass sich der Konvent ab Mai geschlossen in die Obhut der Benediktiner begeben sollte.
Almut hielt das nicht für eine gelungene Entscheidung. Sie betrachtete den Prediger in seiner schwarzen Kutte und versuchte, ihrer aufwallenden Abneigung Herr zu werden.
Der klein gewachsene Notker, der von seinen Mitbrüdern wegen zwei anderer Mönche gleichen Namens ›Notker der Dicke‹ gerufen wurde, neigte zwar den Freuden der Tafel zu, nahm aber sein Keuschheitsgelübde überaus ernst und betrachtete das Weib als die
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