Der dunkle Spiegel
luxuriösen Glasfenster, die seit neuestem nicht nur in Kirchen eingebaut wurden. Zur Straßenseite zierte es ein neunstufiger Giebel, und vor dem Eingang wölbten sich vier Rundbögen.
»Na, dann wollen wir mal sehen, ob wir dem armen kranken Mann helfen können«, spöttelte Almut leise, als sie an die Tür klopfte.
Sie öffnete sich ihr sogleich, doch statt der erwarteten Magd stand Almut eine der schönsten Frau gegenüber, der sie je begegnet war. Ihr Gesicht war das erlesene Oval einer Madonna, gekrönt von einer hohen Haube, von der ein zarter Schleier fiel, das feine Gewand war nach der neuesten Mode aus kostbaren Stoffen gefertigt und verriet durch das gewagte Teufelsfenster – die tiefe seitliche Ärmelöffnung des Obergewandes – eine Figur von anmutiger Zartheit. Sie mochte etwa Anfang der Zwanzig sein. Beide Frauen sahen sich verblüfft an.
»Oh, ich erwartete Pater Ivo…«
»Nun, der bin ich nicht. Aber Ihr scheint die Dame de Lipa zu sein?«
Hoheitsvoll nickte die Schöne.
»Ich bin Almut vom Konvent am Eigelstein. Unsere Apothekerin schickt Euch die Arznei für den kranken Herrn.«
»Den kranken…? Ach ja. Nun, dann tretet ein.«
Almut winkte Trine zu, die mit riesengroßen Augen die prachtvolle Hausherrin angestarrt hatte, und betrat das Haus. Es war angenehm kühl im Inneren. Durch die Butzenscheiben fiel das Sonnenlicht, das sich auf den Bodenfliesen in bunten Mustern brach. Nur ein leichter, aber unangenehm fauliger Geruch störte den gepflegten Eindruck.
»Der Junge liegt oben in seinem Zimmer!«
Bevor die Hausherrin sie die Treppe hoch führen konnte, kam ein stattlicher Mann die Stiege herab. Er mochte etliche Jahre älter als seine Frau sein, schien jedoch sehr vital.
»Ah, die Arznei, um die ich geschickt habe! Ihr seid die Apothekerin?«
»Nein, sie leidet selber. Ich bringe in ihrem Auftrag dieses Fläschchen.«
Aus dem Beutel, den sie am Gürtel trug, holte Almut den kleinen, grünen, sorgfältig verstöpselten Glaskrug hervor.
»Bringen wir es dem Kranken. Folgt mir.«
In einem breiten Bett ruhte in halb aufgerichteter Stellung ein junger Mann, der vor sich hin döste. Einige seiner dunklen Locken klebten wirr an der heißen Stirn, sein Atem ging schwer. Doch war er ein hübscher Junge mit klaren Gesichtszügen und verhältnismäßig dunklem Teint. Von den Schritten und den leisen Worten geweckt, schlug er die Augen auf und schaute ein wenig irritiert um sich.
»Oh, Maître Hermann, Ihr…«
Ein krampfhaftes Husten hinderte ihn am Weitersprechen.
»Das ist Jean de Champol aus Burgund. Er weilt in unserem Haus, um sich im Weinhandel ausbilden zu lassen. Ein schädlicher Wind hat seine Lungen getroffen, und seit beinahe zwei Wochen will sich der Husten nicht bessern, obwohl wir alles getan haben, was wir konnten. Man hat ihn zur Ader gelassen, ihm stärkende Speisen angeboten und heißen Wein zu trinken gegeben, aber nichts hat bisher geholfen. Auch das geweihte Amulett des heiligen Andreas hat keine Wirkung gezeigt, obwohl Jean darauf geschworen hat, dass es ihm in seiner Heimat immer Hilfe gebracht hat.«
De Lipa wies auf das zierlich geschnitzte Holzscheibchen, das Jean an einer dünnen Kordel um den Hals trug. Es war das Kreuz des Andreas darauf zu sehen, umgeben von einem Kranz kleiner Buchstaben.
»Meine Schwester Helgart hat sich an Eure Apothekerin erinnert und sie mir empfohlen.«
»Ein guter Rat. Elsa ist wirklich sehr geschickt und erfahren in der Zubereitung heilender Mittel. Wir sind dankbar, dass sie bei uns ist. Hier ist der Hustensaft, den sie auch uns verabreicht und der sehr wohltuend ist. Nehmt davon einen kleinen Löffel voll, und Ihr werdet merken, wie sich die Krämpfe in der Brust lösen. Nehmt Ihr zwei Löffel voll, werdet Ihr tief und ruhig schlafen. Aber die Apothekerin hat mir ausdrücklich aufgetragen, Euch davor zu warnen, mehr als zwei Löffel von der Arznei zu nehmen, damit keine üblen Folgen auftreten.«
»Ihr bringt uns ein Gift für den Kranken?«
De Lipa fuhr mit einem Ruck herum und musterte das Krüglein misstrauisch.
»Es ist kein Gift, sondern ein starkes Heilmittel. Oder besser – die Dosierung macht es aus, ob es hilft oder schadet. Lasst den Kranken nicht mehr als zwei Löffel voll auf einmal nehmen, dann wird es ihm bei der Heilung dieses bösen Hustens helfen. Gebt ihm nichts mehr davon, wenn die Besserung eingetreten ist.«
Almut stellte die Phiole auf den Tisch neben dem Bett und nickte dem Kranken mit einem
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