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Der dunkle Spiegel

Titel: Der dunkle Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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nachdachte.
    »Wusstest du, dass de Lipa dem Jungen noch am Dienstagmorgen gesagt hatte, er solle im Bett bleiben und sich schonen. Aber der fühlte sich gut genug, sein Tagewerk wieder aufzunehmen. Also kann in der Nacht zuvor nichts passiert sein, was zu seinem Tod geführt hat. Das muss im Laufe des Tages geschehen sein. Hilft uns das eventuell weiter?«
    »Vielleicht. Wer immer ihn vergiftet hat, muss es im Hause der de Lipas getan haben. Oder er ist auch während dieser Zeit noch irgendwo anders gewesen. Das müsste man herausfinden.«
    »Ich fürchte, Almut, bis morgen finden wir da nichts heraus. Und danach mag es herausfinden, wer will. Überlegen wir gemeinsam, wie wir das Schauspiel morgen überstehen.«
    Es war am Sonntagmorgen noch immer kühl und trübe, und die Beginen hatten sich geschlossen in ihre weiten grauen Umhänge gehüllt. Dies hätten sie aber auch getan, wenn die Sonne heiß vom Himmel gebrannt hätte. Schützend hatte die Gruppe Almut in die Mitte genommen und sie in die Kirche geleitet. Es hatte sich selbstverständlich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass an diesem Tag ein Gottesurteil stattfinden sollte, und die kleine Kirche von St. Brigiden war so voll, dass man kaum stehen konnte.
    Auch wenn sich Almut keiner Schuld bewusst war, so konnte sie die Beklommenheit und Angst nicht abschütteln, die sich ihr wie ein eiserner Reif um das Herz legten. Sie hatte beinahe die ganze Nacht auf Knien verbracht, hatte darum gebeten, nicht zu versagen – nicht zu stolpern, nicht zu stottern, die Worte nicht zu vergessen, die sie sagen musste, und sich um Himmels willen nichts aus den Blicken zu machen, die ihren nackten Körper und ihre gelösten Haare verschlingen würden. Denn die kleinste Unsicherheit würde ihr der Dominikaner als Schuldbekenntnis auslegen. Sie wusste zwar, dass ihre Mitschwestern ihr beistünden, so gut es ging, und sie zu schützen versuchten, aber gegen das Gefühl der Demütigung konnten sie ihr nicht helfen. Der Fortgang der Messe drang kaum in ihr Bewusstein, wie mechanisch flüsterte sie leise einen Rosenkranz nach dem anderen vor sich hin, ohne den Worten Bedeutung zu schenken. Schließlich war es so weit, sie musste ihre Kleider ablegen und das Haar lösen. Ihre Schwestern bildeten einen engen Kreis um sie und schützten sie so lange wie möglich vor den gierigen Blicken, während sie die Schuhe aufband, das graue Obergewand ablegte, die Nesteln des weißen Unterkleides mit zitternden Fingern löste und schließlich mit steifem, starrem Gesicht ihr Gebände und den Schleier ablegte. Die Haare darunter hatte sie aufgesteckt, und Magda selbst half ihr, die Flechten zu entwirren und sie über ihre Schultern auszubreiten.
    »Kind, du bist tapfer!«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Wir beten für dich!«
    Es war ein langer Weg durch die Kirche bis zum Altar, wo der Leichnam des jungen Mannes aufgebahrt lag. Sie wusste, dass Magda und Thea sich dicht hinter ihr hielten, aber ihre Knie zitterten, und sie war blass und verkrampft, als sie die ersten Schritte tat.
    »Maria, hilf!«, flehte sie in Gedanken. »Ich darf nicht zögern!«
    Der Steinboden war kalt unter ihren Füßen, und das Geraune und Geflüster rechts und links von ihr schwoll immer weiter an.
    »Da geht die Mörderin!«
    »Unzucht soll sie mit ihm getrieben haben, und als er sie abwies, hat sie ihn kaltblütig vergiftet.«
    »Geheimnisvolle Mittel soll sie angewendet haben. Vielleicht waren ihre Liebestränke tödlich.«
    »Die Schuld steht ihr ins Gesicht geschrieben!«
    »Und nicht nur dahin!«
    Schmähende und rohe Bemerkungen trafen auf Almuts Ohren, Vermutungen, Unterstellungen und Häme. Abschätzige Feststellungen zu ihrem Körper wurden laut, und hässliche Schimpfworte trafen sie wie vergiftete Pfeile. Sie biss die Zähne zusammen, bis sich ihr Kiefer verkrampfte, und wagte nicht, den Blick vom Boden zu heben. Ihre Kehle war so zugeschnürt und ihr Mund so trocken, dass sie voller Entsetzen fürchtete, keinen einzigen Ton herauszubringen.
    »Maria, hilf!«, flehte sie in Gedanken. »Hilf mir, Maria!«
    Und in dem Augenblick, als sie kurz davor war, in Panik umzukehren und davonzulaufen, hörte sie eine bekannte Stimme neben sich sagen: »Kopf hoch, Schwester!«
    Mit verstörtem Blick sah sie auf. Zuerst glaubte sie an ein Trugbild. Die Gestalt in dem blauen Gewand trug das Gesicht ihrer Marienstatue. Doch gleich darauf erkannte sie Aziza, die eben einen Blumenkranz von ihrem Kopf nahm, den Schleier

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