Der dunkle Spiegel
herunterriss und die langen Haare ausschüttelte. Dann wurde ihr etwas in die Hand gedrückt.
»Setz ihn auf, Schwester! Dann ist dein Haupt nicht unbedeckt!«
Verdutzt sah Almut auf den Kranz aus Margeriten, weißer Zaunwinde und dunkelrosa Heckenrosen. Mit zitternden Händen setzte sie ihn sich auf den Kopf, und in diesem Augenblick fiel die Panik von ihr ab. Die Begegnung hatte nur einen Lidschlag lang gedauert, und doch wurde ihr Blick jetzt wieder klar, und der Krampf in ihrem Hals löste sich. Sie straffte ihre Schultern und atmete tief ein. Dann schüttelte sie die Haare, die ihr in schimmernden Wellen bis über die Hüften fielen und sich wie ein schützender Umhang anfühlten. Das aufbrandende Raunen in der Kirche beachtete sie nicht. In hoheitsvoller Haltung schritt sie auf den Altar zu und nahm jetzt auch ihre Umgebung wahr. Da stand rechts von der Bahre der Dominikaner, dessen blendend weiße Kutte im gedämpften Licht der Kirche leuchtete. Er sah ihr mit einem hungrigen Blick entgegen, der sie stärker abstieß als die gehässigen Bemerkungen der Masse. Sie blickte ihm direkt in die Augen, und in ihrem Gesicht zeichnete sich eine solche Verachtung ab, dass er die Lider senkte. Etwas weiter hinten entdeckte Almut den dicken Notker, der seine Umgebung offensichtlich völlig vergessen hatte. Mit offenem Mund starrte er sie an; vor lauter Gier rann ein Speichelfaden über sein feistes Kinn. Pater Ivo stand ebenfalls an der Bahre, doch er hielt seine Augen auf die Hände gesenkt, die in den weiten Kuttenärmeln steckten. Almut nahm noch mehr wahr. Sie erkannte auch ihren Vater in der Menge vor der Bahre. Er hatte einen vor Verlegenheit hochroten Kopf und wusste nicht, wohin er schauen sollte. Ihre Stiefmutter Barbara hatte die Hände fest gefaltet an die Lippen gehoben, aber sie sah ihr in die Augen und nickte ihr ermutigend zu. Sie entdeckte Hermann de Lipa, dessen Blick sie kühl und ohne Interesse streifte, und Dietke, die sie geradezu abschätzend begutachtete.
Sie hatte den Altar erreicht, vor dem Jean de Champol aufgebahrt lag. Es war still geworden in der Kirche. Alle erwarteten mit Spannung den Ausgang der Begegnung. Würde Blut fließen? Würde die Sünderin ihre Tat bekennen? Würde sie vor Entsetzen und Schuld zusammenbrechen?
So, wie es bestimmt worden war, ließ Almut sich vor der Bahre auf die Knie nieder und begann die drei Runden um sie herum zu rutschen. Der Steinboden war rau, und sie rieb sich die Knie wund, aber mit lauter Stimme rief sie bei jeder Umkreisung den Namen des Toten. Dann erhob sie sich und trat zu dem aufgebahrten Leichnam. Ein süßlicher, ekliger Verwesungsgeruch umgab ihn, doch als sie ihn ansah, wurde Almut von tiefem Mitleid gepackt. Jean de Champol lag mit geschlossenen Augen auf dem Polster, seine schwarzen Locken ringelten sich zu beiden Seiten seiner Wangen, und er sah ruhig und sanft aus. Ein schöner Junge, der das Versprechen, ein anziehender Mann zu werden, nicht mehr einlösen konnte. Mit unbewusster Anmut beugte Almut sich über ihn und flüsterte: »Wäre es anders gekommen, Jean, dann hätte mir dies sogar Freude bereitet!«
Sacht küsste sie die kühlen Lippen und trat zurück. Von ihren Haaren nahm sie vorsichtig den Blütenkranz herunter und legte ihn über die auf der Brust gefalteten Hände des Toten. Dann sah sie auf.
In diesem Moment sah sie etwas, das sie beinahe ihre Haltung hätte verlieren lassen. Denn hinter dem Weinhändler war eine dunkle Gestalt aufgetaucht. Ein Mann, ganz in Schwarz, mit dunklen Locken. Im ersten Moment glaubte sie, Jean dort zu sehen, doch dann erkannte sie den Fremden wieder, der in Rigmundis’ Vision angekündigt worden war. Er sah weder rücksichtsvoll zu Boden, noch starrte er sie wollüstig an. Er betrachtete sie mit aufmerksamer Bewunderung.
Schnell sah Almut fort und besann sich auf den letzten Teil ihrer Aufgabe. Mit der Stimme, die sie sich unter hämmernden und brüllenden Steinmetzen auf ihres Vaters Baustellen angewöhnt hatte, verkündete sie für alle vernehmlich: »Ich, Almut Bossart, schwöre bei Gott dem Herren, Jesus, seinem lebendigen Sohn, und dem Heiligen Geist, dass ich Jean de Champol nicht getötet habe. Ich schwöre bei Maria, der heiligen Jungfrau, der Königin des Himmels und barmherzigen Mutter, dass ich schuldlos an seinem Tod bin. Ich schwöre es bei allem, was mir wert und lieb ist, dass ich unschuldig bin!«
Ihr Schwur hallte noch in den Gewölben wider, als Pater Ivo an die Bahre trat
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