Der dunkle Thron
einem Mal gar nicht mehr so aussah, als werde er zur Schlachtbank geführt.
Das Gras auf dem kleinen Friedhof der Waringham war gemäht. Vor den beiden Steinen, die die letzte Ruhestätte von Eleanor und Jasper of Waringham markierten, blühten Primeln. Seite an Seite blieben die Brüder stehen, bekreuzigten sich und beteten einen Moment, jeder im Stillen für sich.
»Sieht schön aus«, sagte Raymond schließlich und zeigte auf die kleinen, fast verblühten Blumen.
Nick lächelte flüchtig. »Polly hat sie gepflanzt. Um mir eine Freude zu machen, schätze ich, aber es gibt auch nicht vieles, was sie lieber tut als Gartenarbeit.«
»Sie bereitet dir noch ganz andere Freuden, hab ich gehört«, sagte Raymond und wandte sich ab.
Nick fand die Bemerkung seltsam. Raymond war noch zu jung für schlüpfrige Andeutungen dieser Art; es klang altklug und unecht. »Wer hat dir das erzählt?«
»Gibt es irgendwen in Waringham, der es nicht weiß?«, konterte der Jüngere verächtlich.
Nick ging schweigend neben ihm her. Sie kamen durchs Torhaus, und als sie die alte Zugbrücke überquerten, antwortete er: »Du bist sehr streng in deinem Urteil über mich, scheint mir.«
»Es ist Sünde!«, hielt Raymond ihm wütend vor. »Unanständig, unter deiner Würde und schändlich.«
»Sagt wer?«
»Sage ich!«
»Ohne zuvor wenigstens zu hören, was ich zu meiner Verteidigung vorzubringen habe?«
Daran hatte Raymond eine Weile zu kauen. Sie gingen den Burghügel hinab, und der Junge lief ein paar Schritte voraus, um die Schafe auseinanderzuscheuchen, die den Pfad versperrten, und dabei verstohlen die Lämmer zu streicheln. Dann stiegen sie den Mönchskopf hinauf, und oben auf der kahlen Kuppe des Hügels verharrten sie einen Moment, wie es ihre Gewohnheit war, und schauten sich um. Dies war der einzige Punkt in Waringham, von wo aus man Dorf, Gestüt und Burg sehen konnte.
»Also? Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?«, fragte Raymond schließlich, und ein kleines, schüchternes Lächeln lag auf seinen Lippen und verwandelte ihn zurück in den Bruder, den Nick kannte.
»Tja, lass mich nachdenken … Sie war willig, und ich war schwach«, erklärte er flapsig.
»Eine erbärmliche Verteidigung.«
»Wirklich? Sonderbar. Wenn König Henry sie vorbringt, ist sie für alle akzeptabel …«
»Nick«, schalt Raymond vorwurfsvoll. »Du darfst so was nicht sagen.«
»Entschuldige.«
»Also?«
Nick blickte einen Moment auf sein Gestüt hinab. Eine Stute stand mit ihrem Fohlen auf der Koppel vor dem Stallmeisterhaus. Das Kleine rieb den Kopf am Bauch seiner Mutter, dort, wo das Fell weich war. Es war ein wunderschönes Bild.
»Ich war einsam, Ray. Ich glaube, das ist der wahre Grund. Es ist nicht meine Absicht, dein Mitgefühl zu wecken, denn Vaters Tod war für dich schlimmer als für mich, weil du noch so jung warst. Aber ich kann dir keinen anderen Grund nennen, wenn es die Wahrheit ist, die du hören willst: Ich war einsam, und Polly war da. Jetzt hat sie ein Kind von mir bekommen. Na und? Jeden Tag bekommen Mägde Bälger von ihren Gutsherrn. Ich habe sie zu nichts gezwungen.« Und der Erste war er auch nicht gewesen. Manche Mädchen hüteten ihre Jungfräulichkeit bis zur Hochzeitsnacht wie die Kronjuwelen, andere verschenkten sie wie ein Gänseblümchen, das morgen wieder wächst. Das war die ganze Geschichte. »Es ist nicht gerade anständig, da muss ich dir recht geben. Ich erwarte auch keinen Heiligenschein dafür. Meinetwegen kannst du mir vorwerfen, dass ich meine Stellung schamlos ausgenutzt und es getan habe, weil ich Lord Waringham bin und es mir leisten konnte. Das stimmt. Aber du kannst sicher sein, dass ich immer gut für Polly und meine kleine Tochter sorgen werde. Die im Übrigen deine Nichte ist. Du könntest dich entschließen, dich einfach daran zu erfreuen, dass es sie gibt.«
Raymond kickte einen losen Kalkbrocken vom Pfad und schlenderte weiter. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, gestand er. »Wenn du gehört hättest, was meine Mutter und Onkel Norfolk gesagt haben …«
»Ich kann’s mir schon vorstellen.« Norfolk, wusste Nick, war ein unerbittlicher Moralist und ein sehr frommer Mann, und sein eigener Lebenswandel war so untadelig, dass er nach Herzenslust Steine werfen konnte, was er auch mit großer Hingabe tat. Solange nicht König Henry der Sünder war, den es zu maßregeln galt. Dessen skandalöse Liaison mit Lady Anne Boleyn, die er jetzt auf so unerhörte Weise
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