Der dunkle Thron
legitimieren wollte, indem er seine rechtmäßige Gemahlin als Hure und seine Tochter als Bastard brandmarkte – all das nahmen Norfolk und Sumpfhexe vermutlich mit einem nachsichtigen Lächeln zur Kenntnis. Weil Anne Boleyn ihre Nichte war und sie sich von ihrer Krönung mehr Macht, Ansehen oder Reichtümer erhofften. Wenn man darüber nachdachte, war ihre Entrüstung über Nicks kleines Malheur eigentlich urkomisch.
Aber er wusste, dass er seinem Bruder all diese Dinge nicht sagen konnte, ohne ihn aufs Neue gegen sich aufzubringen. Nick zögerte einen Moment, dann legte er Raymond den Arm um die Schultern. »Es tut mir leid, dass ich ihnen Anlass gegeben habe, schlecht von mir zu sprechen. Es ist bestimmt schwer für dich, das zu hören und zu wissen, dass sie im Grunde recht haben. Aber ich bin kein gewissenloses Ungeheuer.«
»Nein.« Es klang bedrückt.
»Ich bin dein Bruder, Ray. Und ich liebe dich.«
»Ich weiß.«
»Dann vergiss es nicht.« Er ließ ihn los.
»Wirst du zur Krönung gehen?«, fragte Raymond schließlich, und es klang ängstlich.
»Natürlich. Wenn ich muss.«
»Ich werde auch dort sein. Onkel hat gesagt, es ist der Tag, da ich als Page bei Hof eingeführt werde.«
»Und? Freust du dich?«
Raymond hob kurz die Schultern. »Es ist eine hohe Ehre.«
»Zweifellos.«
»Ich fürchte mich ein bisschen vor dem König«, gestand der Junge. »Aber ich bin auch stolz. Und Louise wird ja da sein. Ich bin also nicht ganz allein bei Hofe.«
Louise war eine von Lady Annes Hofdamen geworden, wusste Nick, und mit deren Krönung würde auch seine Stiefschwester in der komplizierten Hierarchie des Hofes aufsteigen. Glückwunsch, Brechnuss , dachte er gehässig. »Das klingt doch großartig. Sicher wirst du prächtige Feste und wundervolle Jagden erleben.«
»Ja, bestimmt. Aber es wäre alles viel schöner, wenn du auch dort wärest.« Raymond blieb stehen und sah zu seinem großen Bruder empor. »Kannst du nicht an den Hof kommen, Nick? Wäre es nicht viel besser, du würdest dich von der Königin … der prinzlichen Witwe, wollte ich sagen, und ihrer Tochter distanzieren?«
»Das klingt, als hätte das ebenfalls dein Onkel Norfolk gesagt.«
»Stimmt«, räumte Raymond mit kindlicher Arglosigkeit ein. »Du setzt aufs falsche Pferd, meint er. Und schaufelst dein eigenes Grab.«
»Dein Onkel Norfolk ist wahrhaftig der König der abgedroschenen Metaphern, scheint mir …«
»Was?«
»Gar nichts. Entschuldige. Ich kann nicht, Ray. Die prinzliche Witwe und ihre Tochter sind keine Schafe, sondern Menschen, und zufällig bin ich ihr Freund. Seine Freunde lässt man nicht einfach so im Stich, nur weil es politisch klüger wäre, oder?«
»Ich weiß nicht. Wenn sie sich gegen den Willen des Königs auflehnen, vielleicht doch.«
»Er ist nicht Gott. Nur ein Mann. Auch er kann irren. Aber ihr alle tut so, als wäre es eine Todsünde, nicht jeder seiner Launen zu folgen.«
»Nick!«, rief Raymond erschrocken aus. »Es ist furchtbar, was du da redest. Man könnte meinen, du verehrst den König gar nicht.«
Man hätte ja so verdammt recht, dachte Nick, aber er nahm sich zusammen. Es war nie seine Absicht gewesen, Raymond seine Verbitterung sehen zu lassen.
Sie hatten die Wiese mit der Stute und dem Fohlen erreicht. Nick schlenderte zu ihnen und strich dem kleinen Hengst sacht über die struppige Mähne. »Sei unbesorgt, Ray. Ich bin ein Kronvasall und weiß, was ich dem König schulde.«
Sein Bruder nickte, aber seine Miene blieb besorgt. Nick wusste, es war schwierig für Raymond: Über ein Jahr lang war er den Überzeugungen und selbstgerechten Tiraden seines Onkels Norfolk ausgesetzt gewesen, und vorher hatten schon Sumpfhexe, ihr Bruder Edmund und Brechnuss alles daran gesetzt, einen Keil zwischen ihn und Nick zu treiben. Raymond bewunderte seinen mächtigen Onkel Norfolk, und wie jeder zehnjährige Knabe vergötterte er natürlich seinen König. Es war gewiss nicht leicht für ihn, zu einem Bruder zu stehen, der sich nach vorherrschendem Urteil so exzentrisch und scheinbar töricht benahm. Aber Nick wusste einfach nicht, was er noch hätte sagen können, um Raymonds Zweifel an ihm zu zerstreuen. Darum fragte er: »Wie steht es mit deinen Reitkünsten?«
»Immer noch sehr mäßig«, musste der Junge einräumen.
»Dann lass uns satteln und keine Zeit verlieren. Es ist wichtig, dass du vernünftig reiten kannst, wenn du an den Hof kommst, denn der König legt großen Wert auf ritterliche
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