Der dunkle Thron
nicht ausreichen, um Raymonds Zuneigung und Vertrauen zurückzubringen. Aber das Strahlen in den blauen Augen des Jungen machte ihm ein bisschen Hoffnung.
Er lieferte ihn an der Tür des Wohnhauses ab, ging aber nicht mit hinein, sondern überquerte den Hof und betrat den Bergfried.
Sein Cousin saß am Tisch über ein aufgeschlagenes Buch gebeugt.
»Du erinnerst mich an meinen Vater«, bemerkte Nick, als er eintrat. »Der saß auch bei herrlichstem Wetter lieber in seiner Bibliothek und las.«
John schaute auf. »Ich habe schon einen ausgiebigen Spaziergang durch deinen Rosengarten gemacht. Aber du hast trotzdem recht. Deine Bücher sind einfach unwiderstehlich.«
Nick trat näher und warf einen Blick über seine Schulter. »Er nannte alle Menschen, die dem alten Glauben noch angehörten, gottlose Ketzer, die dazu verdammt seien, auf immerdar zu brennen«, las er murmelnd. »Und nachdem er dies viele Male gepredigt hatte, schickten sie ihn in die Verbannung, nicht weil er ihre Religion verurteilt hatte, sondern weil er das Volk aufwiegelte. Denn dies ist eines ihrer ältesten Gesetze: dass kein Mann für seinen Glauben bestraft werden dürfe …« Nick ließ sich seufzend auf den Brokatstuhl neben seinem Vetter sinken. »Sir Thomas Mores Utopia .«
»Wie konnte der Mann, das das geschrieben hat, eine so unbarmherzige Hetzjagd auf Andersgläubige anzetteln?«, fragte John verständnislos.
Nick schüttelte den Kopf. »Es war keine Hetzjagd, John. Es ging ihm nie darum, irgendwen auf den Scheiterhaufen zu bringen. Er wollte, dass sie umkehren.«
»Was macht das für einen Unterschied? Die, die standhaft blieben, mussten dennoch brennen. Und er hatte gar kein Recht dazu«, hielt sein Cousin dagegen. »Er war Lord Chancellor, kein Bischof.«
»Er glaubt, die Reformer bedrohen nicht nur die Einheit der Kirche, sondern ebenso die weltliche Ordnung.«
»Und du gibst ihm recht?«
»Ich gebe ihm in der Sache recht«, schränkte Nick ein. »Und es ärgert mich, wenn seine Utopia missbraucht wird, um ihn zu widerlegen, weil er ihr angeblich selbst untreu geworden ist. Das stimmt nicht. Seine Prinzipien sind heute noch dieselben wie vor zwanzig Jahren, und sie sind unumstößlich. Diese Stelle«, er tippte auf die Zeilen, die er gerade gelesen hatte, »ist eine Mahnung zur Mäßigung, nichts weiter. Eine Warnung gegen frömmelnden Eifer. Aber ich denke, dass es der falsche Weg ist, Menschen für das, was sie glauben, zu töten. Sie zu verbrennen erst recht. Es ist barbarisch, und es verhärtet die Fronten, weil es Märtyrer schafft. Es macht alles nur schlimmer.«
»Und trotzdem schätzt du Thomas More?«, fragte John verwundert.
»Oh ja.«
»Kennst du ihn?«
»Ich habe zwei Jahre in seinem Haushalt gelebt und seine Schule besucht.«
John stieß hörbar die Luft aus und ließ sich in den Sessel zurücksinken. »Du meine Güte. Welch ein Privileg. Darum könnte ich dich beinah beneiden, auch wenn ich ihn für einen fanatischen Papisten halte, der vor allem die Augen verschließt, was in der Kirche schändlich ist.«
»Das tut er nicht, sei versichert«, entgegnete Nick. »Er verschließt vor überhaupt nichts die Augen, und er ist so zornig wie du über die Missstände in der Kirche. Er ist Humanist und lebt nach den Grundsätzen, die andere nur predigen. Er ist ein großartiger Mann, sag, was du willst.«
John schwieg einen Moment und betrachtete seinen Cousin nachdenklich. »Aber für deinen Vater hat er keinen Finger gerührt«, sagte er schließlich.
Nick biss unwillkürlich die Zähne zusammen. Dann antwortete er: »Er konnte ihm nicht helfen. Wolsey hatte beschlossen, dass mein Vater sterben musste, und Wolsey war allmächtig.«
»Wolsey. Das wandelnde Beispiel kirchlichen Machtmissbrauchs. Und trotzdem lehnst du die Reformbewegung ab?«
»Wieso habe ich das Gefühl, dass ich hier unter Anklage stehe?«, grollte Nick leise.
John hob beide Hände. »Entschuldige. Ich wüsste es nur gern. Es hat uns so … erschüttert, als wir vom Tod deines Vaters hörten, und wir haben es nie richtig verstanden.«
Ich kann es dir nicht erklären, dachte Nick, denn das Geheimnis ist heute noch ebenso brandgefährlich wie damals. »Wolsey war ein machthungriges, gewissenloses Scheusal«, sagte er, und es kostete ihn Mühe, den Anschein von Gelassenheit zu wahren. Sir Thomas wäre stolz auf meine maßvolle Ausdrucksweise, dachte er spöttisch. »Er hat das Leben meines Vaters in mehr als einer Hinsicht zerstört. Und
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