Der dunkle Thron
du hast recht, er verkörperte alles, was in der Kirche im Argen liegt. Aber er ist tot. Er hat all seine Macht und seine Reichtümer verloren, ist in Ungnade gefallen, hat lange genug gelebt, um mitanzusehen, wie alle Freunde sich von ihm abwandten, um dann schließlich in Einsamkeit, Armut und Verzweiflung zu sterben. Gut so. Es tröstet mich, daran zu denken. Es verschafft mir ein Mindestmaß an Genugtuung und befriedigt meinen Rachedurst. Aber damit ist das Thema für mich erledigt. Im Gegensatz zu meinem Vater, meiner Schwester und meinem Schwager können Wolseys Schandtaten mich nicht von der Rechtmäßigkeit der Reformbewegung überzeugen.«
»Warum nicht?«, fragte John neugierig. »Was unterscheidet dich von deinem Vater, deiner Schwester und deinem Schwager?«
»Mein Vater war ein wahrer Gelehrter. So wie du«, ging Nick auf. »Ich glaube, es war letztlich nicht sein Hass auf Wolsey, der ihn bewogen hat, sich den Ketz… den Reformern anzuschließen, sondern das Ergebnis jahrelanger Kontemplation und theologischer Studien. Ich bin nicht so … philosophisch veranlagt.«
»Du willst mir weismachen, du seiest ein Dummkopf?«, fragte John amüsiert.
»Nein, ich hoffe nicht«, gab Nick mit einem flüchtigen Lächeln zurück. »Aber ich gebrauche meine Hände ebenso gern wie meinen Kopf. Ich habe kein solches Vergnügen an komplizierten Gedankengängen wie mein Vater oder Sir Thomas. Ich bin … ein praktischer Mann, glaube ich. Ich beurteile das, was ich sehe. Im konkreten Fall bedeutet das: Kardinal Wolsey war nicht der einzige, der meinen Vater verraten hat. König Henry hat ihn ebenso auf dem Gewissen. Und die Reformer lassen sich zu seinem Werkzeug machen. Damit will ich nichts zu schaffen haben.«
»Und doch hat deine Schwester sich anders entschieden, wie du sagst.«
»Ja. Und ich respektiere ihre und Philipps Entscheidung, so wie ich ihre Standhaftigkeit bewundere, denn sie sind bereit, für ihre Überzeugung ein Leben in ärmlichen Verhältnissen in Kauf zu nehmen. Aber ihr Weg ist nicht der meine.«
John nickte versonnen, und es war eine Weile still. Von irgendwoher im Haus hörte man das Geschrei eines Säuglings, und Nick fuhr durch den Kopf, dass er seine kleine Tochter nach ihrer Taufe noch gar nicht gesehen hatte.
»Und was ist mit dir?«, fragte er seinen Cousin schließlich. »Wie bist du ein Reformer geworden?«
»Die heilige Mutter Kirche hat mich dazu gemacht«, antwortete John, und es klang eine Spur herausfordernd. »Mit ihrem Aberglauben und ihren Erpressermethoden und ihrem Kreuzzug gegen Master Tyndales wundervolle englische Bibel. Sie macht es einem heutzutage leicht, sich in Verachtung von ihr abzuwenden.«
Der jüngere Cousin nickte beklommen. »Ich weiß.« Er wies auf sein Bett. »Master Tyndales Bibel liegt übrigens unter dem Kopfkissen. Nimm sie dir, wann immer du willst.«
John lachte in sich hinein. »Du bist ein seltsamer Papist, Vetter. Schade, dass sie nicht alle so sind wie du.«
»Für einen Ketzer bist du auch nicht übel«, konterte Nick. »Wenn die Wanderlust dich wieder packt, besuche meine Schwester Laura und ihren Mann in London. Ich bin sicher, ihr würdet Gefallen aneinander …«
Er brach ab, weil sich ohne Vorwarnung die Tür öffnete.
»Waringham, alter Kämpe! Ich bringe dir eine Einladung von deinem über alles geliebten König.«
Nick verdrehte grinsend die Augen und stand auf. »John, diese unmögliche Kreatur ist Jerome Dudley. Jerome, mein Cousin Doktor John Harrison.«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hand und musterten einander neugierig.
»Seid Ihr der Arzt aus York?«, fragte Jerome unsicher.
John nickte. »Und Ihr Sir Edmund Dudleys Sohn?«
»Treffer.« Lachend sahen sie zu Nick und sagten wie aus einem Munde: »Unsere Mütter waren Schwestern.«
»Du meine Güte.« Nick betrachtete sie kopfschüttelnd. »Noch mehr Cousins.«
London, Mai 1533
Findet Euch am Donnerstag, dem 29. Mai, im Tower of London ein, nicht später als 10 Uhr , hatte der Zeremonienmeister des Königs Nick geschrieben. Da Ihr ein Haus in London besitzt, gehen wir davon aus, dass Ihr während der vier Tage der Krönungsfeierlichkeiten selbst für Eure Unterkunft Sorge tragen könnt .
Grinsend hatte Nick geschlossen, dass der Lord Chamberlain allmählich verzweifelt war, weil er nicht wusste, wo er all die Gäste unterbringen sollte, und der Lord Treasurer Albträume wegen der Kosten hatte. Nun, Nick hatte ganz und gar nichts dagegen, ein
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