Der dunkle Thron
preiswerter Gast zu sein und in seinem Haus zu nächtigen – je weniger Zeit er bei Hofe verbringen musste, desto besser. Nur leider hatte der Zeremonienmeister vergessen zu erwähnen, dass der Fluss mit den Barken der Londoner Zünfte und Gilden hoffnungslos verstopft sein würde, die hinausgefahren waren, um die neue Königin gebührend in ihrer Stadt willkommen zu heißen. Die Prozession der prächtig geschmückten Boote war vier Meilen lang, und auf der Themse ging nichts mehr.
»Verdammt, Waringham, wir kommen zu spät«, murmelte Jerome nervös, als sie die Glocke von All Hallows Barking zehn schlagen hörten. Er stieß seinem Pferd rüde die Sporen in die Seiten, um es zu ermuntern, sich zwischen einem Fuhrwerk und einer Traube von Fußgängern hindurchzudrängen.
»Hör auf, den armen Gaul zu schinden«, schalt Nick. »Niemand wird merken, wenn wir ein paar Minuten später kommen.«
»Du hast ja keine Ahnung«, schnaubte sein Freund.
»Nein, das ist wahr.«
Auch auf den Straßen der Londoner Innenstadt war das Gedränge schlimmer als sonst, wenngleich Nick beim Einzug einer neuen Königin mit größeren Zuschauermassen gerechnet hätte. Jedenfalls war er dankbar, dass er auf Jerome gehört hatte und zeitig von Farringdon aufgebrochen war, denn sein Haus lag auf der Westseite der Stadt, der Tower ganz im Osten.
So kamen sie – auch ohne das Londoner Volk niederzureiten – nur mit einer knappen halben Stunde Verspätung an das gewaltige Lion’s Gate an der südwestlichen Ecke des Tower of London, wo sich eine Schlange von Edelleuten, Damen und kirchlichen Herrn mitsamt Gefolge gebildet hatte.
»Einer nach dem anderen, Ladys und Gentlemen«, brüllte der Sergeant der Yeoman Warders. »Einer nach dem anderen. Ihr seid, Sir?«
»Lionel Baldwin, Abt von St. Albans.« Der ehrwürdige Abt klang ein wenig verschnupft, dass er nicht auf einen Blick erkannt wurde.
»Siegel oder Wappen, Mylord?«, fragte der Sergeant.
Mit sturmumwölkter Miene zeigte der Abt sein Siegel vor. Der Sergeant konsultierte eine Liste, die aus mehreren eselsohrigen Blättern bestand, nickte schließlich und winkte den Abt mit seiner Entourage durch.
»Name, Sir?«
»Nicholas of Waringham.« Er wies auf das Banner, das Jerome an einer Stange trug und welches das Waringham-Wappen zeigte.
Der gewissenhafte Sergeant blätterte wieder in seiner Liste. »Schwarzes Einhorn auf grünem Schild, Schiff mit heiligem Edmund auf dem Wappenhelm …«, las er murmelnd, dann schaute er auf. »Stimmt. Nur von einem Motto steht hier nichts.«
»Es ist neu«, klärte Nick ihn auf.
Mühsam entzifferte der Torwächter die verschnörkelten lateinischen Worte am unteren Rand des Wappens: » Deus iudex meus . Was heißt das?«, fragte er – offenbar aus purer Neugier.
»Gott ist mein Richter.«
Der Yeoman Warder trat lächelnd einen Schritt zurück und winkte sie durch. »Ein gutes, frommes Motto, Mylord.«
Seite an Seite ritten Nick und Jerome durch das Lion’s Gate und überquerten die steinerne Brücke, welche den Graben überspannte. »Ein gefährliches Motto, würde ich sagen, wenn mich irgendjemand fragte«, brummte Jerome. »Aber das tut natürlich wieder mal niemand.«
»Wer daran etwas auszusetzen hat, muss wirklich von sehr argwöhnischer Natur sein«, widersprach Nick.
»Und das ist heutzutage praktisch jeder. Man könnte zum Beispiel argwöhnen, dass du sagen willst: Gott allein ist mein Richter. Die Pfaffen werden denken, du willst dich ihrem Urteil nicht unterwerfen, und der König wird denken, du wolltest das seine in Zweifel ziehen. Es ist rebellisch.«
Nick antwortete nicht. Er hatte es gewählt, weil sein Vater es gesagt hatte, kurz bevor er starb. Wer ihm – Nick – eine innere Rebellion gegen König und Klerus unterstellen wollte, hätte zweifellos recht, und es war kein Zufall, dass er sich diesen Zeitpunkt ausgesucht hatte, um dem altehrwürdigen Wappen seiner Familie dieses Motto hinzuzufügen. Aber er fand nicht, dass sein Leitspruch Schlüsse auf seine Gesinnung zuließ.
Sie passierten den Middle Tower – das erste Torhaus der gewaltigen Festungsanlage –, wo sie nochmals kontrolliert wurden, dann das zweite Torhaus, den Tower at the Gate. »Da vorn könnt Ihr Eure Pferde lassen, Mylord«, teilte die dortige Wache ihm mit und wies auf ein langgezogenes Stallgebäude, das sich linkerhand an die Ringmauer schmiegte. »Achtet darauf, dass die Stallknechte Euch eine Boxennummer geben, sonst findet Ihr Eure
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