Der dunkle Thron
Gäule niemals wieder. Dann begebt Euch auf den Wehrgang zwischen Lanthorn und Salt Tower. Dort ist Euer Platz.«
Nick und Jerome befolgten seinen Rat, gaben die Pferde ab und ließen sich dann mit der Menge treiben, die sich zwischen den beiden Ringmauern entlangschob. Als sie den St. Thomas Tower passierten, blickte Nick geradeaus, statt zum Water Gate hinabzuschauen, durch welches er in der Nacht vor vier Jahren in den Tower gelangt war, um seinen Vater sterben zu sehen. Er wusste, er konnte sich nicht erlauben, die Erinnerungen an jene Stunden jetzt zuzulassen. Wenn er das hier heil überstehen wollte, brauchte er einen kühlen Kopf, und dazu musste er seine Verbitterung und seinen Zorn auf den König im Zaum halten. Das warme Maiwetter kam ihm dabei zu Hilfe, denn im hellen Sonnenschein war dies hier ein völlig anderer Ort als in jener unwirtlichen Regennacht. Nick hatte früh lernen müssen, die Dinge, die ihn niederdrückten, in einem Winkel seiner Seele zu verschließen wie in einer Schachtel, damit er überhaupt jemals die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit empfinden konnte, die jedem Kind zustehen sollten. Jetzt kam ihm diese Fertigkeit zugute.
»Es ist wirklich alles hervorragend organisiert«, bemerkte Jerome und schaute sich anerkennend um.
»Ja. Irgendwer muss das alles monatelang geplant haben. Jemand mit militärischer Erfahrung, würde ich meinen.«
»Du darfst dreimal raten.«
»Suffolk?«, tippte Nick.
»Er war das Genie, das diesen ganzen Mummenschanz geplant hat, während er auf seinem Hintern saß und unbescheidene Mengen Wein in sich hineingeschüttet hat. Ich war das arme Schwein, das ständig von Pontius nach Pilatus gerannt ist, um seine Anweisungen zu überbringen und …«
Seine letzten Worte gingen in ohrenbetäubendem Kanonendonner unter. Die Salutschüsse hatten begonnen.
Nick und Jerome beeilten sich, drängten die Treppe zum Wehrgang hinauf und suchten sich Plätze an der steinernen Brustwehr, sodass sie freien Blick auf den Fluss hatten. Sie standen eingezwängt zwischen feinen Damen und Höflingen, deren modische Gewänder so bunt und kostbar waren, dass Nick sie unter anderen Umständen vermutlich offenen Mundes bestaunt hätte. Doch der Anblick, der sich vor ihnen erstreckte, war so überwältigend, dass er alles andere in den Schatten stellte: Der Fluss war in der Tat so vollgestopft mit den Barken der Gilden und Zünfte, dass man trockenen Fußes von Ufer zu Ufer hätte gelangen können. Die Boote waren mit Baldachinen und Teppichen aus kostbaren Tuchen geschmückt, und Scharen von Trompetern, Chorknaben oder sonstigen Musikanten in der Livree ihrer jeweiligen Zunft standen ordentlich in Reih und Glied aufgestellt und sangen und schmetterten. Weil sie sich nicht abgestimmt hatten, ergab ihre Musik einen ziemlich misstönenden Radau, aber das machte nichts, weil die Salutschüsse sie ohnehin übertönten. Nick schaute zufällig gerade zur St.-Katherine-Kirche hinüber, als wieder einer losdonnerte, und eines der kostbaren Glasfenster des Gotteshauses zerbarst vor seinen Augen und regnete in glitzernden Scherben an der Fassade hinab.
»Was für ein Jammer«, murmelte Nick vor sich hin.
Jerome hatte in der Nähe ein paar Freunde entdeckt und beugte sich vor, um zwischen den Kanonenschüssen und um die anderen Zuschauer herum mit ihnen plaudern zu können, bis Nick ihn am Ärmel zupfte und auf den Fluss hinaus wies. »Da kommt sie.«
Gespannt schauten sie hinab auf das prunkvolle Wirrwarr aus Booten, das an der Ostseite eine Gasse zu bilden begann. Hindurch glitt eine schmale Barke, die mindestens doppelt so lang war wie alle anderen. Sie war mit Goldbrokat ausgeschlagen, aus welchem auch der Baldachin gearbeitet war.
»Mordsboot, he«, murmelte Jerome, der die Unterarme auf die Zinnen gestützt hatte.
»Es ist Königin Catalinas Barke«, antwortete Nick, ohne die Stimme zu senken. »Lady Anne hat darauf bestanden, dass sie sie für ihre Krönung bekommt, hörte ich.«
Jerome wandte den Kopf. »Sprich um Himmels willen leiser, Mann. Und es heißt jetzt Lady Catalina und Königin Anne, nicht umgekehrt. Besser, du merkst dir das langsam mal.«
Eine neuerliche Salve von Salutschüssen ersparte Nick eine Antwort. Er schaute auf die schmale, wenn auch sichtbar schwangere Frau dort unten, deren Garderobe ebenfalls von Goldbrokat dominiert wurde, und die huldvoll mal zu den adligen Zuschauern oben auf den Mauern des Tower, dann zu dem einfachen Volk am Südufer winkte.
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