Der dunkle Thron
Cromwell in Aussicht, sein Tonfall leutselig. »Guten Tag, Lord Shelton.«
Polly kniete hinter dem kleinen Backhaus im Gras und hatte die Arme ausgebreitet. »Komm. Komm her, Eleanor. Hab keine Angst.«
Ihre Tochter maß die Entfernung von der Bretterwand, an der sie sich festhielt, bis zu ihrer Mutter mit verengten Augen, ließ die stützende Hand dann sinken, drückte das Kinn auf die Brust und stapfte los. Sie lief ein bisschen schneller, als sie eigentlich konnte, und gegen Ende geriet sie ins Trudeln und fiel ihrer Mutter in die Arme.
Polly fing sie auf und hob sie mit ausgestreckten Armen in die Höhe. »Wunderbar! Das hast du gut gemacht, mein Schatz!«
Eleanor lachte voller Seligkeit über ihren Erfolg und strahlte ihre Mutter an.
Polly wusste nicht, was genau es war, das ihr das Herz zusammendrückte: das glockenhelle Kinderlachen oder der Blick dieser blauen Waringham-Augen. Sie schloss ihr Kind in die Arme und küsste den blonden Flaum. »Was machen wir jetzt nur, mein Engel? Was soll nur aus uns werden …«
Eleanor hatte kein Interesse daran, in den Armen ihrer Mutter stillgehalten zu werden. Sie befreite sich, richtete sich wieder auf und lief zurück zum Backhaus.
Polly faltete die Hände im Schoß, schaute ihr zu und fragte sich, was sie falsch gemacht hatte. Was sie hätte anders machen müssen, um nicht in dieser ausweglosen Lage zu enden.
Ihre Familie gehörte seit jeher zu den angesehensten, aber auch zu den ärmsten in Waringham. Früher hatten die Saddlers die kärglichen Erträge ihrer ausgelaugten kleinen Scholle aufgebessert, indem sie die Sättel für das Gestüt herstellten. Auch das Schuhmacherhandwerk hatten viele ihrer Vorfahren beherrscht, und noch ihr Vater hatte auf dem großen Jahrmarkt von Waringham fein gearbeitete Stiefel feilgeboten, die immer reißenden Absatz fanden. Doch der Jahrmarkt war nicht mehr, und der Niedergang des Gestüts hatte auch die Sattlerei so gut wie überflüssig gemacht. Schließlich war ihrer Mutter nichts anderes übrig geblieben, als sich bei Lord und Lady Waringham als Dienstmagd zu verdingen. Meist hatte sie Polly, ihre Jüngste, mit zur Burg hinaufgenommen, und so war Polly in Sichtweite von Nick, Laura und Louise aufgewachsen. Aus der Ferne hatte sie beobachtet, wie Nick versuchte, seine Schwester und sich selbst vor der Tücke seiner Stiefmutter zu beschützen, wie er scheiterte und es wieder versuchte, wie tapfer er gekämpft hatte, um der Furcht und des Kummers nach dem Tod seiner Mutter Herr zu werden. Natürlich hatte sie auch gesehen, wie er seine Stiefschwester für die Lieblosigkeit ihrer Mutter büßen ließ, ihr wieder und wieder die Tür vor der Nase zuschlug und sich mit seiner Schwester gegen sie verbündete. Doch Polly hatte ihm diese Grausamkeit nie verübelt. Sie hatte verstanden, warum er war, wie er war. Und wenn er seine Stiefschwester in den Brunnen gestoßen hätte, wäre ihr vermutlich auch dafür eine Rechtfertigung eingefallen, weil sie ihn eben liebte. Sie konnte nicht so recht erklären, warum das so war, hatte er doch kaum je ein Wort mit ihr gesprochen, nie wirklich zur Kenntnis genommen, dass sie überhaupt existierte. Aber sie konnte sich an keine Zeit erinnern, da sie den jungen Lord Waringham nicht geliebt hatte, und natürlich hatte es sie nicht gekränkt, dass er sie ignorierte. Er war eben ein Lord und sie die kleine Küchenmagd, die hin und wieder durch sein Blickfeld huschte.
In den Jahren, da er auf der Schule gewesen war, hatte sich an ihren Gefühlen nie etwas geändert. Das hatte sie auch nicht erwartet. Sie war überzeugt, ihre Liebe war ein so großer Bestandteil ihrer selbst, dass ihr Herz einfach aufhören würde zu schlagen, wenn sie sie je verlöre.
Als sie vierzehn wurde, hatte ihr Vater sie geschickt, Vater Ranulf das Haus zu führen, weil der einen halben Schilling mehr pro Woche zu zahlen gewillt war als Lord Waringham. Polly hatte keine Einwände gehabt, denn sie glaubte, der feine Pastor sei ein Gentleman wie Lord Jasper – bis Vater Ranulf sie zum ersten Mal zum gemeinsamen Nachtgebet in seine Kammer rief. Sie hatte es erduldet, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen. Vor ihrem Vater und den Brüdern hätte sie sich viel zu sehr geschämt, um sie um Hilfe zu bitten. Ganz abgesehen davon, dass ihr Vater vermutlich gewusst hatte, was genau er Vater Ranulf für den zusätzlichen halben Schilling pro Woche verkaufte. Doch auch ihre Mutter, die strikt gegen Pollys neue
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