Der dunkle Thron
hören. Was bildete sie sich eigentlich ein?
»Weil es mich noch mehr entehrt hätte, es nicht zu tun.«
»Das versteh ich nicht.«
»Nein.«
Sie stieß angewidert die Luft aus. »Es ist ihret wegen, oder? Wegen deiner verdammten Prinzessin. Lord Shelton hätte dich davongejagt, wenn du mich nicht geheiratet hättest, und du hättest deinen Schwur brechen müssen. Aber das kommt für einen Lord Waringham natürlich nicht infrage. Und um es zu verhindern, warst du sogar bereit, dich so unvorstellbar zu erniedrigen, eine wie mich zur Frau zu nehmen. Nicht um dein Kind … deine Kinder zu anständigen Leuten zu machen und ihnen deinen Namen zu geben. Das wär dir im Traum nicht eingefallen, du …«
»Jetzt komm mir bloß nicht so«, unterbrach er und stieß sich von dem Baumstamm ab. »Wir wollen doch nicht vergessen, wer von uns beiden zu wem ins Bett gestiegen ist, nicht wahr? Du kanntest dein Risiko. Also wage ja nicht, mir meine Bastarde zum Vorwurf zu machen. Immer vorausgesetzt, dass es wirklich meine sind …«
Polly stieß einen kleinen Schrei aus und legte die Linke an die Kehle.
Nick wusste ganz genau, wie himmelschreiend ungerecht und gemein er zu ihr war. Er zweifelte in Wahrheit auch nicht daran, dass sie ihm treu war. Aber er war außer sich über seine Schande, und eine boshafte, dünne Stimme in seinem Innern raunte ihm zu, nur Polly sei schuld daran, sie habe in Wirklichkeit doch alles so eingefädelt, weil sie wusste, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde, als sie zu heiraten. »Bilde dir ja nicht ein, dass dein Sohn jemals Lord Waringham werden könnte. Falls dieses Kind ein Junge wird, kommt er ins Kloster, damit das klar ist.«
»Falls dieses Kind ein Junge ist, wird er wohl eher Stallknecht so wie sein Vater«, gab sie zurück, machte kehrt und ließ ihn stehen.
Nick trat mit solcher Wucht gegen den Baumstamm, dass es sich anfühlte, als hätte er sich den Fuß gebrochen. Er fluchte lästerlich, ließ sich ins Gras fallen und knurrte ihr nach: »Ja, geh nur. Mir war sowieso nicht nach Hochzeitsnacht …«
Doch ihre raschelnden Schritte im Farn waren längst verklungen.
Er blieb die Nacht über im Wald und schlief ein paar Stunden im Farn, bis die Kälte ihn aus wirren, düsteren Träumen riss. Die Luft war feucht und roch nach Herbst. Mit steifen Gliedern stand Nick auf, streifte im perlgrauen Licht der Morgendämmerung zwischen den Bäumen umher und gelangte schließlich an einen Bach. Am anderen Ufer entdeckte er eine Hirschkuh mit ihrem Kalb, und weil er den Wind im Gesicht hatte, bemerkten sie ihn nicht. Sie soffen von dem klaren Wasser des eiligen Flüsschens, dann begann die Kuh zu grasen. Das Kalb blieb mit zitternden Ohren am Ufer stehen, und es schien, als schaue es Nick aus seinen großen, schwarzen Augen direkt an.
Wie so oft, seit sie in Kent waren, überkam ihn Heimweh nach Waringham. Das Sehnen war so heftig, dass es ihn fast körperlich schmerzte – vor allem in den Fingerspitzen, hatte er gelernt –, und er schalt sich einen Narren und Jammerlappen. Doch es nützte nichts. Dieser Wald sah aus wie der von Waringham, er roch genauso und klang genauso, und die Tatsache, dass Nicks Zuhause nur ein paar Stunden entfernt, aber dennoch so unerreichbar war wie die Sterne, erfüllte ihn mit einem bohrenden, hilflosen Zorn, der Ähnlichkeit mit Verzweiflung hatte. Es war, als müsse er den Moment, da er sich den Siegelring vom Finger gezogen hatte, wieder und wieder erleben: Er fühlte sich verbannt und wurzellos, entzweit von sich selbst.
Er hob einen Tannenzapfen auf und warf ihn ins Wasser. Kuh und Kalb schreckten auf und flohen zwischen die Bäume am entlegenen Ufer. Nick wandte sich ab, machte sich auf den Rückweg ins Dorf und betrat die Kirche lange vor den ersten Betern, die sich zur Frühmesse einfinden würden. Er stieg die Stufen zur Krypta hinab. Auf dem steinernen Sarkophag des lange vergessenen angelsächsischen Heiligen, der hier bestattet lag, flackerte ein Öllämpchen, und in seinem Licht fand Nick mühelos eine niedrige hölzerne Tür ohne Riegel. Er warf einen kurzen Blick zurück über die Schulter und lauschte, aber nichts rührte sich. Also öffnete er die kleine Pforte, schlüpfte hindurch und zog sie hinter sich wieder zu.
Im Innern des Gangs herrschte vollkommene Finsternis. Nick strich mit beiden Händen über die Wände, ertastete eine ungleichmäßige, harte Oberfläche mit Zwischenräumen und dann und wann etwas unangenehm Weiches:
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