Der dunkle Thron
ihm ja nicht unter die Nase reiben, dass es ein Experiment ist.«
Nick trank einen Schluck, lauschte dem Hin und Her ihrer Debatte und rang mit dem abscheulichen Gefühl von Neid, das ihn plötzlich überkam. Daniel und Madogs Bruder hatten keine größeren Sorgen als lahmende Gäule und die Haferabrechnung, und sie kannten sein Gestüt und dessen Bewohner besser als er selbst. Fast war es, als hätten sie ihm das Leben gestohlen, das ihm eigentlich zugestanden hätte …
Daniels Stimme riss ihn aus düsteren Gedanken. »Warum in aller Welt bist du nach Hause gekommen, Nick?«
»Warum?«, wiederholte Nick fassungslos. »Hm, lass mich überlegen. Was kann es nur sein, das den Earl of Waringham dazu verleitet, einmal in Waringham vorbeizuschauen …«
»Ich meine nur, ist das nicht viel zu gefährlich?«, erklärte Daniel hastig.
»Kann schon sein. Aber ich konnte einfach nicht widerstehen«, gab er flapsig zurück.
In Wahrheit war sein Herz so bleischwer, dass er sich regelrecht krank davon fühlte. Sir Thomas’ Hinrichtung hatte ihn nicht nur mit Bitterkeit, sondern auch mit düsteren Vorahnungen erfüllt, und er drohte den Mut zu verlieren. Er wusste nicht so recht, wie er mutlos weitermachen sollte, und vielleicht hoffte er, hier eine Antwort zu finden.
»Bleibt Ihr zum Essen?«, fragte Owen.
Nick hörte, dass die Einladung von Herzen kam, aber er schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich will auf die Burg hinauf und mit Laura und Philipp reden. Vor Sonnenaufgang muss ich wieder verschwunden sein.«
»Sei bloß vorsichtig, wenn du auf die Burg kommst«, warnte Daniel. »Nicht, dass deine Stiefmutter dich sieht.«
»Und was ist, wenn sie mich sieht?«, konterte Nick herausfordernd. »Denkst du, sie wird mich verhaften und in Eisen legen? Oder ist Norfolk etwa zu Besuch, um es zu tun?«
»Nein, Norfolk ist nicht hier. Aber dein Bruder Raymond. Und Ray ist Norfolks Auge und Ohr in Waringham, Nick.«
Aus dem Schatten des Torhauses ließ er den Blick über den Burghof schweifen. Alles war still und dunkel. Durch die Fenster des Wohnhauses auf der linken Seite schien anheimelndes Licht, aber zu schwach, um den Innenhof zu erhellen. Der Bergfried ragte wie ein schwarzer Schatten rechts aus der Finsternis auf. Ohne zu zögern hielt Nick darauf zu. Er brauchte kein Licht, um den Weg zu finden. Als er die doppelflügelige Tür erreichte, wehte die sachte Brise ihm Lavendelduft aus Pollys kleinem Kräutergarten in die Nase. Nick hielt inne und atmete tief durch.
Das Eingangstor des Bergfrieds war unverschlossen und unbewacht wie üblich. Lautlos schlüpfte Nick hindurch. Eine einzelne Fackel spendete ein wenig schummriges Licht auf der Treppe. Er schlich nach oben, vorbei an der Halle, die so tot und dunkel wie immer dalag, und weiter hinauf zum Geschoss darüber.
Vor seinem Wohngemach hielt er an und drückte das Ohr an die Tür. Ihm schoss durch den Kopf, dass ihm so etwas vor zwei Jahren niemals eingefallen wäre und das Leben unter falscher Identität den Manieren eines Gentleman nicht gerade zuträglich war. Nichts zu hören. War niemand dort? Oder war die alte Eichentür einfach zu dick?
Nun, es gab wohl nur einen Weg, es herauszufinden. Mit klopfendem Herzen öffnete Nick die Tür.
Laura saß allein beim Licht einer Kerze am Tisch und nähte. Als der Luftzug die Kerzenflamme erzittern ließ, hob sie den Kopf. »Oh, der Herr sei gepriesen!« Achtlos warf sie ihre Nadelarbeit auf den Tisch, sprang auf und schloss ihren lang entbehrten Bruder in die Arme.
Dann trat sie einen Schritt zurück und musterte ihn mit einem warmen Lächeln. »Der Bart steht dir hervorragend«, bemerkte sie.
»So wie dir die französische Haube«, gab er zurück, nahm seine Schwester bei den Händen und erwiderte ihre eingehende Begutachtung. Eigentlich konnte er französische Hauben nicht ausstehen, weil Anne Boleyn sie in England zur Mode gemacht hatte, aber er musste einräumen, dass die runde Form Lauras hohe Wangenknochen und die schönen Proportionen ihres Gesichts betonte.
Einen Moment sahen sie sich noch in die Augen, dann ließ er sie los, und sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch.
»Hast du Hunger?«, fragte Laura.
»Fürchterlich«, gestand er.
Gestern Abend hatte er im Tabard Inn in Southwark eine Schale dünnen Eintopf gegessen, hatte zwischen Scharen angetrunkener Pilger, die trotz des unlängst erlassenen Verbots nach Canterbury ziehen wollten, auf einer schmuddligen Strohmatratze im großen
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