Der dunkle Thron
Augenblicke kam der Mond zum Vorschein. Ehe der nächste vorbeijagende Wolkenschleier ihn wieder verhüllte, erkannte Nick, dass Sir Thomas’ Kopf der ganz rechte war. Die anderen fünf waren nur noch schwärzliche, ungleichmäßig geformte und behaarte Kugeln, denn sie thronten hier schon seit zwei Wochen, und die Möwen und Krähen waren nicht untätig gewesen.
Ohne jedes erkennbare Zögern packte Lady Meg die Stange mit dem Kopf ihres Vaters, die einen Moment bedenklich schwankte, sobald sie nicht mehr in ihrer Halterung steckte. So ein Kopf ist viel schwerer, als man meint, hatte Nick einmal einen Yeoman Warder in einer Londoner Schenke sagen hören. Aber Lady Meg neigte die lange Lanze vorsichtig zur Seite und schob sie Stück um Stück durch ihre Hände, bis sie das obere Ende erreicht hatte.
Nick schlich noch ein paar Schritte näher und verbarg sich im Schatten eines niedrigen Viehstalls. Von dort aus beobachtete er, wie sie den Kopf ihres Vaters in die rechte Armbeuge bettete – so wie man es tut, wenn man einem Kranken zu trinken geben will –, ihm die Stirn küsste und dann mit einem entschlossenen Ruck die Lanzenspitze aus dem durchtrennten Hals zog. Nick musste für einen Moment die Augen schließen.
Als er sie wieder aufriss, kniete Meg Roper am Boden und hüllte den Kopf liebevoll in ihr Schultertuch und dann in einen Lederbeutel, den sie vermutlich zu genau diesem Zweck den ganzen Tag über der Schulter getragen hatte.
Kaum hatte sie sich wieder aufgerichtet, als zwischen den Häusern der Brücke ein Lichtpunkt auftauchte. »He da!«, rief eine energische Stimme. »Wer treibt sich hier nachts auf der London Bridge herum, wenn gottesfürchtige Menschen längst schlafen? Gib dich zu erkennen, Bursche!«
Nick spürte, wie jeder Muskel in seinem Körper sich anspannte. Es waren zwei Männer der Stadtwache, nahm er an, die vielleicht auf der Thames Street patrouilliert und Lady Megs Licht gesehen hatten.
»Kein ›Bursche‹, Sir«, antwortete sie kühl und scheinbar furchtlos. »Mein Name ist Margaret Roper, und ich habe den Kopf meines Vaters geholt, damit er begraben werden kann, wie es jedem Christenmenschen zustehen sollte.«
Die beiden Stadtwächter waren näher getreten: zwei junge Männer, die vermutlich zu einer Zunft oder Gilde gehörten und noch nicht reich genug waren, um einen Büttel zu bezahlen, der den nächtlichen Wachdienst für sie versah.
»Lady Meg Roper?«, fragte der eine, und Nick entspannte sich ein wenig. Die Stimme klang ungläubig, aber respektvoll.
»Ganz recht, Master …«
»Neil Ferryman«, stellte er sich vor und verneigte sich knapp.
Nick hatte Mühe, sich ein Lachen zu verbeißen. Das war der Kerl, den er vor Jahren einmal davor bewahrt hatte, auf dem Pferdemarkt von Smithfield eine große Dummheit zu begehen …
Lady Meg kannte den Namen offenbar auch. »Ihr seid Master Durhams Gehilfe, nicht wahr?«
»Ja, Madam.« Er trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Und ich bin nicht sicher, was wir jetzt machen sollen. Denkt nicht, ich könnte Euch nicht verstehen, aber was Ihr getan habt, ist nun einmal verboten …«
»Wir müssen es melden, wir haben gar keine Wahl«, sagte sein Gefährte mit Nachdruck.
Ferryman nickte unglücklich. »Ich fürchte, er hat recht. Wir würden gern ein Auge zudrücken, glaubt mir, aber wir haben einen Eid geschworen und …«
»Master Ferryman«, unterbrach Lady Meg. »Lasst Ihr mir den Kopf oder nehmt Ihr ihn mir wieder weg?«
Die beiden Stadtwächter wechselten einen Blick, dann antwortete Neil Ferryman: »Ich wüsste nicht, wie wir ihn mit Anstand zurückbekommen sollten, wenn Ihr ihn uns nicht freiwillig gebt.«
»Habt Dank, Sir. Das werde ich selbstverständlich nicht tun.«
»Nein.« Ein Lächeln lag in der Stimme. »Das dachte ich mir. Aber eine Dame mit solch kostbarer Fracht sollte wirklich nicht abends allein in dieser Stadt unterwegs sein. Würdet Ihr uns wohl gestatten, Euch nach Hause zu geleiten, Lady Meg?«
»Gott segne dich, Neil Ferryman«, flüsterte Nick vor sich hin und wandte sich beruhigt ab, um auf das südliche Flussufer zurückzukehren.
Waringham, Juli 1535
»Ich denke nicht, dass es etwas zu bedeuten hat«, sagte eine fremde Stimme mit einem unüberhörbar walisischen Akzent. »Sie wächst zu schnell, das ist alles.«
»Meinst du, wir sollten sie für eine Woche aus dem Training nehmen?«, fragte Daniel.
Lautlos trat Nick näher an die Box, deren obere Türhälfte offen stand.
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