Der dunkle Thron
immer mit Bauchschmerzen zum Unterricht gegangen, so kam Ray leichten Herzens und meistens willig.
Doch an diesem Tag war er untypisch störrisch. »Wozu soll ich so blöde Wörter lesen lernen, die ich nicht mal kenne?«, nörgelte er.
»Ja, die Wörter sind ziemlich blöd, das gebe ich zu.« Nick hatte sie aus der streng verbotenen englischen Bibel seines Vaters abgeschrieben, ehe der das anstößige Werk vereinbarungsgemäß zusammen mit den übrigen Ketzerschriften in eins der Verliese im alten Bergfried gebracht hatte, wo sie jetzt hinter Schloss und Riegel schmorten – was völlig angemessen war, fand Nick. Er hatte die Übungswörter danach ausgesucht, wie kurz oder lang, einfach oder schwer sie zu lesen waren, nicht nach ihrem Unterhaltungswert. »Hör zu, Ray. Ich weiß, es ist mühsam, doch nur auf diesem Weg kannst du es lernen. Aber wenn du diese Woche gute Fortschritte machst, kann ich nächste Woche vielleicht eine kleine Geschichte für dich schreiben. Was hältst du davon?«
Die großen, blauen Kinderaugen leuchteten auf. »Mit Rittern?«
»Wenn du willst.«
»Und Drachen?«
»In Ordnung.«
»Und Feen?«
»Sag mir, wer und was darin vorkommen soll.«
Raymond zählte seine Helden an den Fingern ab. »König Artus, Sir Lancelot, Sir Gawain, Sir Galahad, Morgana die Fee, Merlin der Magier, ein Drache und ein Zauberschwert.«
Nick zog das Blatt Papier zu sich heran, tauchte die Feder ins Tintenhorn und schrieb ein neues Wort unter die bestehende Liste. »Lies.«
»Oh, Junge, das ist aber lang«, protestierte Ray erschrocken.
Nick musste lächeln. »Bedenke, worum du bittest …«
»Hä?«
»Egal.« Der große Bruder wies auf das Blatt. »Lies!«
»Z… Zau-ber-schw… Zauberschwert!«
»Du kriegst deine Geschichte, Raymond of Waringham.« Nick streckte die Hand aus.
Selig schlug Ray ein.
Beinah ein Vierteljahr war Nick jetzt wieder zu Hause, aber die Zeit kam ihm viel länger vor. Das lag vermutlich daran, dass seine Tage in Waringham in ganz anderer Weise ausgefüllt waren als in Sir Thomas Mores Haushalt in Chelsea.
An Sonntagen und den zahllosen Heiligenfesten ging er vor dem Frühstück mit seiner Familie zum Kirchgang ins Dorf – ein weiter Weg vor allem bei dem häufigen schlechten Wetter, aber da Jasper of Waringham keinen Kaplan mehr wollte, war die Burgkapelle verwaist. Wenigstens hatte der Earl sich auf Nicks hartnäckiges Drängen hin dem regelmäßigen Kirchgang wieder angeschlossen, worüber alle erleichtert waren, selbst wenn Jasper auf dem ganzen Rückweg in einem fort über Vater Ranulf schimpfte. Zu Recht, wie Nick wusste.
Nach dem Frühstück hielt er den Schulunterricht für seinen kleinen Bruder ab, und zwar in der Bibliothek seines Vaters. So fand Jasper sich Morgen für Morgen aus seinem Refugium vertrieben, und es war Lady Yolanda, die ihm vorgeschlagen hatte, die Zeit in Dorf und Gestüt zu verbringen, denn um beide stünde es gleichermaßen schlecht.
Das stellte auch Nick jeden Tag aufs Neue fest, wenn er im Gestüt aushalf, Pferde trainierte, Sättel reparierte und Zäune erneuerte, oder wenn er über die Felder ritt, um zu sehen, wie es mit der Ernte voranging, oder unangemeldet den Reeve heimsuchte, um ihm bei der Pachtabrechnung über die Schulter zu schauen.
»Ich fürchte, Daniel könnte mit seinem Verdacht recht haben, Vater. Irgendetwas stimmt nicht mit den Pachtbüchern.«
Sein Vater nickte grimmig. »Ich kann dir sagen, was nicht stimmt. Es sind die Erträge selbst, nicht die Abrechnungen. Diese ist die dritte Missernte in Folge.«
»Ja, es ist furchtbar«, warf Laura beklommen ein. »Ich fürchte, diesen Winter könnte Waringham hungern.«
Nick teilte ihre Sorge, dachte aber gleichzeitig, dass magere Pachteinnahmen ein guter Grund mehr seien, sich vom Reeve – dem Gutsverwalter – nicht übers Ohr hauen zu lassen. Doch das behielt er für sich. Die Entscheidung, was in der Sache zu tun sei, oblag Lord Waringham, und Nick war dankbar, dass sein Vater all diesen Dingen überhaupt wieder ein wenig Aufmerksamkeit schenkte.
Auch Jasper of Waringham schienen die Veränderungen gut zu bekommen, die Nicks Heimkehr mit sich gebracht hatte. Er war immer noch hager, sein Rücken von all den Jahren des Bücherstudiums gekrümmter, als es bei einem Mann von nicht einmal vierzig Jahren der Fall sein sollte. Aber die Schatten unter den Augen waren verschwunden, die Furchen auf der Stirn schienen nicht mehr so tief wie zu Beginn dieses verregneten
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