Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Thron

Der dunkle Thron

Titel: Der dunkle Thron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
Vom Netzwerk:
könnte.«
    »Danke, Vater.«
    Jasper stand auf. »Und besser, ich höre keine Klagen über dich, mein Sohn. Falls doch, erachte ich unser Abkommen als hinfällig und werde Simon Fish das Vorwort zu seiner Streitschrift schreiben, wie er es wollte.«
    Nick schauderte bei der Vorstellung. »Ich frage mich, wer hier wen erpresst«, murmelte er verdrossen.
    Sein Vater nahm die Kerze und sah zum Abschied noch einmal zu dem Bild seiner ersten Frau. »Diese Susanna Horenbout ist eine Zauberkünstlerin«, sagte er. »Es ist, als sei der Rahmen ein Fenster und deine Mutter stünde dort auf der anderen Seite.«
    »Denkst du manchmal an sie?«
    Jasper stand mit dem Rücken zu ihm, aber er nickte. »Jeden Tag.«
    »Vater?«
    »Hm?«
    »Was ist passiert? Warum bist du in Ungnade gefallen? Warum … hasst du den König so sehr?«
    Lord Waringham wandte sich von dem Bildnis ab und sah ihn an. »Nicht heute Abend, Nick. Lass uns ein andermal darüber sprechen.« Er ging zur Tür, und Nick wusste, dass sein Vater vor seinen Fragen davonlief.
    »War es ihretwegen? Ich weiß, was von ihm geredet wird. War es das? Hat König Henry meine Mutter in sein Bett gezerrt? War das Kind von ihm?«
    Jasper stand mit gesenktem Kopf an der Tür, als habe er vergessen, wie man sie öffnet. »Nein.« Es war die Stimme eines Fremden.
    Nick trat zu ihm. Behutsam nahm er ihn beim Arm und drehte ihn zu sich um, bis sie Auge in Auge standen. »Aber auch nicht von dir?«
    Sein Vater sah ihn an und doch wieder nicht. Der Blick war vage, unscharf, so als sei er nicht auf irgendeinen Punkt im Raum, sondern in die Vergangenheit gerichtet. »Das werde ich niemals wissen.«

Waringham, September 1529
    »Na los, Ray, versuch’s noch mal. Schau dir den ersten Buchstaben an. Was ist das?«
    »Ein ›R‹. Wie in Raymond.«
    »Genau. Und dann?«
    »Ein ›e‹. Und der nächste ist ein ›b‹.«
    »Ein ›d‹«, verbesserte Nick.
    Sein kleiner Bruder richtete sich auf. »Gestern hast du gesagt, er heißt ›b‹!«, protestierte er entrüstet.
    Nick sah noch einmal genau hin. »Entschuldige. Du hast recht.« Und er dachte: Herrje, Vater hat hier wirklich den Bock zum Gärtner gemacht . Die Buchstaben »b« und »d« zu unterscheiden fiel ihm bis auf den heutigen Tag schwer. Aber nicht »Rede« stand dort, wie er auf den ersten Blick geglaubt hatte, sondern »Rebe«. Nick stieß seinen Bruder leicht mit der Faust an die Schulter. »Siehst du, du bist schon besser als ich. Also? Wie heißt das Wort?«
    »Re…be. Was ist das?«
    »Eine Pflanze, die Trauben hervorbringt. Aus denen macht man Wein.«
    Ray nickte ungeduldig. Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Er hatte heute einfach keine Lust. »Können wir nicht rausgehen und Tennis spielen, Nick?«, fragte er quengelig.
    Doch der große Bruder schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Und wir hatten abgemacht, dass du nicht jammerst, weißt du noch?«
    »Schon, aber die Sonne scheint.«
    »Das wird sie in einer Stunde auch noch tun.«
    »Aber ich will …«
    »Es spielt keine Rolle, was du willst«, unterbrach Nick streng und wies auf das eselsohrige Blatt Papier, das vor ihnen lag. »Weiter.«
    Ray stieß einen Laut des Unwillens aus, beugte den Kopf aber wieder über die Liste mit Wörtern.
    Nick fand seine Aufgabe nicht immer leicht, denn Ray war bisher stets nur von allen verwöhnt und mit Liebe und Nachsicht förmlich überschüttet worden. So kam es, dass der kleine Junge jetzt zum ersten Mal die Erfahrung machte, dass das Leben nicht nur daraus bestand, zu tun, was einem Vergnügen bereitete. Mit seiner Ausdauer war es nicht weit her, und er nutzte jede Gelegenheit, vom Gegenstand ihrer Studien abzuschweifen. Aber Nick hatte zu seiner Überraschung festgestellt, dass er ihre zwei Stunden Unterricht am Morgen genoss. Er hatte sich gleich zu Anfang die Frage gestellt, ob es nicht möglich sein müsste, ein Kind das Alphabet zu lehren, ohne es ihm einzuprügeln. Die Herausforderung, die dieses unerhörte Experiment darstellte, beflügelte ihn, und bislang lautete sein Fazit: Doch, es war durchaus möglich. Es war nicht einfach, und manchmal kostete es mehr Geduld, als er sich selbst zugetraut hätte, aber es funktionierte. Ray lernte das Lesen sehr viel schneller und leichter, als Nick selbst es unter der Anleitung des strengen Bruder Ignatius getan hatte, der damals als Kaplan im Haushalt des Earl of Waringham gelebt und die Kinder unterrichtet hatte. Und war Nick in den ersten Monaten seiner Schulausbildung

Weitere Kostenlose Bücher