Der dunkle Thron
die Hände auf die Schultern. »Ich schwöre dir bei Gott und allem, was heilig ist, dass ich dieses Vorwort nicht geschrieben habe, Nick.«
Der Junge nickte und sah unverwandt in die blauen Augen. »Was soll ich tun?«
»Gar nichts. Bleib hier und kümmere dich um Waringham.«
Aber wann kommst du wieder? , wollte Nick fragen. Wieso kann der Lord Chancellor dich für etwas verhaften lassen, das du nicht getan hast? Was passiert jetzt? Doch er las im Gesicht seines Vaters, dass der die Antworten auch nicht wusste.
Lord Waringham lächelte auf ihn hinab. »Leb wohl, Nick.« Dann ließ er ihn los, ging zur Tür und sah sie noch einmal der Reihe nach an. »Gott beschütze euch alle.«
Nick tat, worum sein Vater ihn gebeten hatte. An St. Michaelis und den Tagen danach empfing er zusammen mit dem Reeve eine nicht abreißende Karawane von Bauern aus Waringham, Hetfield und den anderen nahe gelegenen Weilern der Baronie, die mit Kornsäcken und Hühnern und Schafen kamen, um ihre Pacht zu entrichten. Manche der wohlhabenderen Vasallen kamen sogar mit Geld. Viele der Bauern kamen aber auch mit leeren Händen und Ausflüchten und Tränen in den Augen, weil sie nicht wussten, wie sie ihre Familien über den Winter bringen sollten. Nick wies den Reeve an, die geschuldeten Pachtbeträge aufzuschreiben und den Leuten nicht zuzusetzen, denn er wusste, sein Vater hätte das gleiche getan. Er fuhr mit Raymonds Leseunterricht fort und schrieb sogar die versprochene kleine Geschichte. Aber es kam ihm die ganze Zeit so vor, als sei es ein anderer, der all diese Dinge tat. Er funktionierte wie ein dressierter Papagei. Sein wahres Selbst stand unter Schock und war in eine gefühllose Starre gefallen.
Es dauerte über eine Woche, bis Philipp Durham aus London zurückkam. Er fand Nick und Laura allein in der Bibliothek, schloss seine Frau in die Arme und zog sie dann mit sich auf die Bank am Kamin hinab.
»Es sieht nicht gut aus«, berichtete er gedämpft. »Er ist im Tower eingesperrt.« Er schien leicht zu schaudern. Alle Durham empfanden einen abergläubischen, geradezu kindischen Schrecken vor dem Tower.
»Aber wieso?«, fragte Laura verständnislos. »Müsste er nicht in einem kirchlichen Gefängnis sein, wenn er der Ketzerei beschuldigt wird?«
»Nicht unbedingt«, antwortete Philipp. »Es ist schon so mancher Ketzer im Tower gelandet.«
Nick kam in den Sinn, dass im Tower die einzige Streckbank in London stand, aber das behielt er für sich. Es nützte ja nichts, wenn er seine unsinnigen Schreckgespinste mit seiner Schwester teilte und sie noch weiter in Angst versetzte.
»Aber eigentlich müssten der Bischof von London oder der alte Erzbischof von Canterbury sein Ankläger sein, nicht Kardinal Wolsey«, fuhr Philipp fort. »Nur klagt ihn bislang überhaupt niemand an. Irgendetwas ist faul an der Sache, sagen mein Onkel und die Londoner.«
»Weißt du, wie es ihm geht?«, fragte Laura. »Hat er genug zu essen? Behandeln sie ihn ordentlich?«
»Ich schätze, das werden sie wohl«, gab er zuversichtlich zurück. »Er ist schließlich der Earl of Waringham, nicht wahr?«
»Oh ja.« Laura schnaubte bitter. »Und eine lange, blutreiche Geschichte verbindet die Waringham und den Tower …«
»Was ist mit Simon Fishs Ketzerschrift, Philipp?«, fragte Nick. »Hast du sie gesehen?«
»Allerdings. Die Londoner reißen sie den Druckern aus der Presse, ehe die Tinte trocken ist.«
»Gibt es ein Vorwort?«
»Ich habe keines gesehen. Doch geht ein Gerücht, die ersten gedruckten Exemplare hätten eines enthalten.« Er hob seufzend die Schultern. »Da Euer Vater es nicht verfasst hat, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder der geschäftstüchtige Master Fish hat es selbst geschrieben, um mit einem berühmten Namen den Verkauf seines Werks zu fördern, oder irgendwer, der Eurem Vater schaden wollte, hat es getan.«
»So oder so wäre es eine Fälschung«, überlegte Laura. »Wenn wir das beweisen könnten, wäre vielleicht etwas gewonnen.«
Nick stand von dem Schemel am Schreibtisch auf. »Ich reite nach Chelsea.«
»Zu Sir Thomas?«, fragte seine Schwester skeptisch. »Meinst du nicht, wir hätten es inzwischen gehört, wenn er gewillt wäre, Vater zu helfen?«
Nick schüttelte den Kopf. »Er wird glauben, Vater habe das Vorwort tatsächlich geschrieben. Wenn er erfährt, dass es eine Intrige ist, wird er alles tun, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und es heißt, er sei der beste Rechtsgelehrte, den England je
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