Der dunkle Thron
beschlossen hatte, seinen Vater zu Fall zu bringen: Thomas Wolsey, Sohn eines Metzgers aus Ipswich, der es zum Erzbischof von York, zum Kardinal und Lord Chancellor gebracht hatte. All das hatte Nick gewusst. Er hatte auch gewusst, dass Wolsey Macht und Reichtümer zusammengerafft hatte wie nie ein englischer Kirchenfürst zuvor und gerne Papst geworden wäre. Nick hatte den feisten Kardinal in seinen blutroten Roben sogar einmal auf einem von Sir Thomas’ Festen gesehen, als er und seine Freunde verbotenerweise vom Garten aus durchs Fenster in die hell erleuchtete Halle gespäht hatten. Aber erst der Anblick von York Place vermittelte dem Jungen eine Ahnung davon, wie schlimm es wirklich um seinen Vater stand. »Muss der Kardinal nicht fürchten, den Neid des Königs zu erwecken?«, murmelte er vor sich hin.
Der Bootsführer lachte brummig. »Oh, unser Kardinal ist schon vorsichtig. Wenn König Henry gar zu großen Gefallen am Haus seines Chancellors findet, schenkt der es ihm. So wie Hampton Court.«
Allmählich blieben die Häuser zurück, und die Ufer auf beiden Seiten wurden grün und ländlich. Ein sachter Regen hatte eingesetzt und tauchte die Flusslandschaft in stille Melancholie. Nick zog den Mantel fester um sich.
Es war beinah Mittag, als das Wherry an Sir Thomas’ Steg festmachte. Nick bezahlte den Bootsführer und sprang an Land, lief die wenigen Schritte zur Treppe an der Mauer und erklomm sie im Sturm, immer zwei Stufen auf einmal. Der Anblick des vertrauten Anwesens gab ihm ein wenig Zuversicht zurück.
Er durchquerte den Obstgarten, umrundete das Haupthaus und kam in den vorderen Hof, wo wie üblich viel Betrieb herrschte. Vor dem strohgedeckten Gebäude, welches die Armenküche beherbergte, hatte sich eine Schlange abgerissener Gestalten gebildet. Nick ging an ihnen vorbei und betrat das dämmrige Innere. »Lady Meg?«
Sir Thomas’ Tochter stand am Herd und füllte Schalen mit Suppe aus einem gewaltigen gusseisernen Kessel. Als sie ihren Namen hörte, wandte sie den Kopf. »Nicholas!« Ihre herrlich weißen Zähne leuchteten auf, als sie lächelte.
Er trat näher und verneigte sich. »Lady Meg.« Das Herz schlug ihm bis zum Halse, wie immer, wenn er in ihrer Nähe war. »Ist Euer Vater da?«
Sie schüttelte den Kopf. »Schon seit zwei Tagen in Hampton Court. Ich weiß nicht, wann er zurückkommt. Der König scheint auf einmal gar nicht mehr auf ihn verzichten zu können.«
Nick war bitter enttäuscht. Sir Thomas war der einzige Mensch, den er um Hilfe für seinen Vater bitten konnte. Nun wusste er nicht weiter. »Wo ist Martin?«, fragte er abwesend.
»Das wüsste ich auch zu gern«, gab sie zurück. »Ganz plötzlich ist ihm wohl eingefallen, dass er eine wichtige Verabredung hat, nehme ich an.«
Es war eine alte Geschichte: Martin, der Sohn des Stewards und etwa in Nicks Alter, war eigentlich dafür zuständig, Lady Meg bei der täglichen Armenspeisung zur Hand zu gehen, aber er war der Auffassung, die Aufgabe sei unter seiner männlichen Würde, und verdrückte sich regelmäßig. Nick ließ den Blick durch den kargen Raum mit den langen Tischreihen schweifen und sah, was zu tun war. Es war nicht das erste Mal, dass er für Martin einsprang. Er streifte den knielangen Mantel ab – dankbar für die Wärme, die der große Herd verbreitete –, stellte den Korb mit den hölzernen Löffeln auf den Tisch zu den gefüllten Suppenschalen und begann, dicke Scheiben von einem Laib Roggenbrot zu schneiden. Er hatte einiges Geschick in dieser schwierigen Kunst entwickelt, und seine Scheiben waren ebenso gleichmäßig wie großzügig. Dann legte er einen Löffel in eine Suppenschale und reichte sie dem ersten der Bettler mit einem Stück Brot. »Wohl bekomm’s.«
»Gott segne Euch, Sir. Habt Dank.« Es war ein hagerer alter Mann, der unterhalb des linken Knies ein Holzbein hatte. Ein Veteran aus den Zeiten, als König Henry noch kriegslustig war, nahm Nick an.
»Danke nicht mir, sondern Sir Thomas und Lady Meg«, erwiderte der junge Mann lächelnd. »Sie sind die edlen Spender.«
»Dann möge Gott auch sie segnen«, erwiderte der Alte und trug seine Schale hinkend zu einem der Tische.
»Sir Richard Newton«, raunte Lady Meg. »Er war einmal ein Gentleman.«
Nick verteilte Schalen und Brot an die wartenden Hungerleider. »Ich dachte, entweder man ist ein Gentleman oder man ist es nicht. Wenn ja, bleibt man es sein Leben lang, egal ob König oder Bettler.«
Sie rührte mit der Kelle im
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