Der dunkle Thron
außer Jenny und mir.« Sie schwieg einen Moment, ehe sie fortfuhr: »Ich habe zwei Menschen getötet, Nick. Denn ich weiß, dass Edmund Howard an den Folgen der Verwundung gestorben ist, die ich ihm beigebracht habe. Ich habe kein schlechtes Gewissen deswegen, denn sie haben Furchtbares getan, und ich habe in Notwehr gehandelt. Aber ich habe nicht einmal versucht , meine Schwestern vor dem Feuer in der Kapelle zu bewahren. Ich wusste genau, dass sie verbrennen oder ersticken würden, und habe nichts getan. Trotzdem habe ich überlebt. Du hast gesagt, das sei keine Sünde, aber du irrst dich. Jede von ihnen hatte genauso viel Recht weiterzuleben wie ich. Aber sie sind tot. Ich lebe. Weil ich Gott eine Kerze stehlen wollte«, schloss sie mit bitterem Hohn.
Er fragte sich, wo sie die Kraft gefunden hatte, um trotzdem irgendwie weiterzumachen. Und er nahm sich vor, sich ein Beispiel an ihrer Tapferkeit zu nehmen.
»Denkst du nicht, du bist sehr hart zu dir selbst?«, fragte er leise. »Das einzige, was du erreicht hättest, wenn du die Krypta verlassen hättest, wäre gewesen, das gleiche Schicksal zu erleiden wie deine Mitschwestern, und mit ihnen zu sterben.«
»Gut möglich«, räumte sie ein. »Aber das ändert nichts. Sie waren meine Schwestern. Sie hatten Schwächen und Fehler wie wir alle, aber sie wollten niemandem Übles, und sie hatten das gleiche Recht zu leben wie Jenny und ich.«
»Was ist aus ihr geworden?«, wollte er wissen. »Aus Jenny Ormond?«
»Ich habe sie mit nach Hause genommen. Nach Fernbrook. Dort hatte ich zwar keine Familie mehr, aber der Schmied hat uns versteckt, bis Jenny gesund genug war, um nach Derbyshire heimzukehren. Der Schmied hat sie hingebracht. Ihr Vater war auch bei der Gnadenwallfahrt und galt als verschollen, aber ihre Mutter war selig, sie zurückzuhaben.«
»Wenigstens sie hast du gerettet«, sagte Nick mit einem kleinen Lächeln und küsste sie auf die Stirn. »Und dich selbst. Du musst lernen, dir zu vergeben, Janis. Nicht du trägst die Schuld am Tod deiner Mitschwestern, sondern Howard. Und du … Du hast so viel Fröhlichkeit und Wärme in die Krippe gebracht. Wo wären die Kinder ohne dich?« Und wo wäre ich ohne dich, fügte er in Gedanken hinzu.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, erwiderte sie ernst. »Ich habe gelernt, mit den Dingen zu leben, die passiert sind. Das ist mehr, als du von dir behaupten kannst.«
»Lord Waringham«, grüßte Erzbischof Cranmer mit einem verhaltenen Lächeln. »Sehr rücksichtsvoll, dass Ihr aus freien Stücken herkommt. Meine Leute sind momentan so überlastet, dass sie kaum die Zeit haben, einen Unsichtbaren zu suchen.«
Nick verneigte sich förmlich vor dem höchsten Kirchenfürsten Englands. »Ich hoffe, Ihr könnt mir vergeben, Exzellenz. Ich …« Er biss die Zähne zusammen und atmete dann tief durch. »Es hat ein paar Tage gedauert, ehe ich dem … politischen Teil dieser Katastrophe ins Auge sehen konnte. Er kommt mir so grotesk vor. So banal, verglichen mit dem Tod meines Bruders.«
Cranmer nickte ernst und lud ihn mit einer Geste ein, in dem Sessel vor dem ausladenden Schreibtisch Platz zu nehmen. Es war ein erlesen ausgestattetes Gemach mit feinsten italienischen und flämischen Gemälden an den Wänden. Lambeth Palace, die Londoner Residenz des Erzbischofs, galt als einer der schönsten Paläste Englands.
»Welch bestechend aufrichtiges Eingeständnis«, bemerkte Cranmer. »Dergleichen bin ich nicht gewohnt. Normalerweise werde ich von früh bis spät belogen, vor allem in den letzten Wochen. Aber ich entsinne mich, Euer Vater war genauso. Ich kannte ihn recht gut, wisst Ihr.«
Nick nahm Platz und nickte. »Ich habe Eure Briefe an ihn gelesen.«
»Tatsächlich?« fragte Cranmer erstaunt. »Ich nehme an, Ihr würdet sie als ketzerisch bezeichnen?«
»Richtig. Aber ebenso als tiefgründig und gescheit. Eure gehörten zu den Schriften im Nachlass meines Vaters, die mich am meisten ins Grübeln gebracht haben.«
Der Erzbischof lehnte sich zurück, legte die Fingerspitzen zusammen und stützte das Kinn darauf. Er war ein auffallend gut aussehender Mann mit fesselnden, dunklen Augen. Obwohl er Mitte fünfzig sein musste, war sein Haar noch rabenschwarz. Die tiefen Furchen um die Mundwinkel waren der einzige Hinweis auf die Sorgen um König und Reich, die vermutlich nie größer gewesen waren als gerade jetzt. »Wenn ich sagte, Ihr seiet mir gegenüber skeptisch, aber nicht grundsätzlich feindselig eingestellt,
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