Der dunkle Thron
von eigener Hand tun, um nicht die ewige Verdammnis zu riskieren, aber das ist ja ein rein technischer Unterschied. Ich war entschlossen, aus dem Leben zu scheiden. Denn jede andere Möglichkeit erschien mir schrecklicher.«
»Ja«, sagte Janis nüchtern. Sie wusste ganz genau, wovon er sprach, und das wunderte ihn nicht.
»Aber irgendwie … habe ich mich im letzten Moment dann doch für das Leben entschieden. Warum er nicht? Was … war der Unterschied?«
»Das können wir niemals wissen, Mylord«, antwortete Janis. »Aber wenn Ihr selbst schon einmal an jenem finsteren Ort wart, dann wisst Ihr, wie dünn der Seidenfaden sein kann, der einen im Diesseits hält. Es war nicht Eure Schuld, dass Euer Bruder sich anders entschieden hat …«
»Doch!« Er fuhr zu ihr herum. »Es ist meine Schuld. Er ist zu mir gekommen.« Er tippte sich ungeduldig an die Brust. »Aber ich war nicht imstande, ihm die Hilfe zu geben, die er brauchte. ›Wir müssen praktisch denken, Raymond‹, habe ich gesagt und ihm einen Proviantbeutel gepackt, um ihn wegzuschicken. Ich habe …« Er konnte mit einem Mal nicht weitersprechen. Einer Panik nahe, rang er um Worte, aber vergeblich. Beschämt wandte er ihr wieder den Rücken zu. »Das Alte Testament hatte doch recht. Gott ist rachsüchtig. Und er lässt mich büßen, dass ich Richard Mekins habe sterben lassen. Oder dass ich unfähig bin, meinen Sohn zu lieben. Es muss eines von beiden sein. Oder sogar beides. Aber … vermutlich spielt es gar keine Rolle, denn …«
Plötzlich lag ihre Hand auf seinem Arm, und sie drehte ihn zu sich um. »Ihr müsst damit aufhören«, befahl sie streng. » Ihr seid derjenige, der sich schuldig fühlt. Gott hat nichts damit zu tun. Ihr könnt Euch Eure Unzulänglichkeiten nicht vergeben, so wenig wie Ihr Euch vergeben könnt, was Richard geschehen ist. Eurem Bruder erst recht. Aber das müsst Ihr. Denn es lag nicht in Eurer Hand. Ihr müsst es wenigstens versuchen, sonst …«
Er legte zwei Finger auf ihre Lippen und schüttelte langsam den Kopf. »Was wisst Ihr von Schuld, Schwester? Ihr habt doch nur überlebt. Das ist weiß Gott keine Sünde.«
Janis schloss die Augen. Sie hob die Linke, ergriff die Hand, die immer noch an ihren Lippen lag, und drückte sie für einen Augenblick an ihre Wange. »Wenn du wüsstest …«, flüsterte sie.
Dann ließ sie ihn abrupt los, wandte sich ab und verschwand durch die Falltür, ohne ihn noch einmal anzuschauen.
Keinen Schlaf zu finden, war nichts Neues mehr für Nick. Aber in dieser Nacht war es anders als sonst. Er starrte nicht mit brennenden Augen in die Finsternis und sah vor sich seinen Bruder an dem dünnen Strick baumeln. Heute Nacht lag er still mit geschlossenen Augen in seinen Mantel gewickelt auf dem Fußboden der Dachkammer und dachte an Janis Finleys Wange unter seiner Hand. An die durchschimmernden Lider mit den honigfarbenen Wimpern. Er dachte daran, dass die Falltür ins Priorzimmer führte und das Priorzimmer eine Verbindungstür zu Janis’ Schlafgemach besaß. Und als es Mitternacht wurde, konnte er der Versuchung nicht länger standhalten.
Lautlos öffnete er die hölzerne Falltür. Die Leiter war fortgeräumt worden, damit sie ihn nicht verriet, aber das machte nichts. Er legte die Hände um die Kante der Luke, ließ sich langsam herab, und seine Zehenspitzen fanden den Fußboden, noch ehe seine Ellbogen ganz durchgedrückt waren, denn Nick war groß und das Priorzimmer niedrig. Schemenhaft sah er die Tür als dunkles Rechteck in der weiß getünchten Wand, und als er mit der flachen Hand dagegendrückte, stellte er fest, dass sie nur angelehnt war.
Mit einem Mal drohte ihn der Mut zu verlassen. Was, wenn sie aufwachte? Sie würde sich zu Tode erschrecken. Sie würde die falschen Schlüsse ziehen. Das hieß, sie würde genau die richtigen Schlüsse ziehen, aber sie würde seine Absichten missdeuten. Besser, er verdrückte sich schleunigst wieder …
Aber er sah sich außerstande. Magisch angezogen schlich er durch die Tür, und seine nackten Füße waren beinah geräuschlos auf den Holzdielen. Doch als er vor ihrem Bett ankam, zog er erschrocken die Luft ein: Janis war wach und sah ihm entgegen. Ihre Augen schienen in der Dunkelheit zu leuchten, aber ihre Miene war ernst.
Er blieb stehen und sah auf sie hinab. Lange, so kam es ihm vor. Dann schlängelte sich ein schlanker, nackter Arm unter der Bettdecke hervor, und die Hand ergriff die seine.
Janis zog ihn zu sich herab und
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