Der dunkle Thron
schreien, weil er den Zorn seiner Stiefmutter noch mehr fürchtete als den Gnom unter seinem Fenster. Am nächsten Morgen hatte sich herausgestellt, dass der Gnom nur Nicks Kapuzenumhang war, der zusammengeknüllt auf dem Schemel gelegen und den der Luftzug, der durchs Fenster kam, bewegt hatte. Doch es hatte lange gedauert, bis Nick die Schrecken jener Nacht überwunden hatte. Noch heute legte er die Kleidungsstücke, die er abends auszog, ordentlich zusammen, statt sie achtlos auf den nächstbesten Schemel zu werfen. Und das Schlimmste an der Furcht war die vollkommene Einsamkeit gewesen, in die sie ihn gestürzt hatte, und die hätte er jedem Kind gern erspart, selbst wenn es nicht sein Sohn gewesen wäre.
»Was genau ist unheimlich an dem Einhorn?«, erkundigte er sich.
»Es … es ist so groß. Und es sieht so grimmig aus, wie es da auf die Hinterhufe aufgerichtet über meinem Kopf schwebt. Sobald ich mich hinlege, kann ich es nicht mehr im Auge behalten, und es ist immer, als würden die Hufe gleich auf meinen Kopf niedersausen.«
»Verstehe«, sagte sein Vater und nickte versonnen. »Aber weißt du, Einhörner sind das Gegenteil von grimmig. Sie sind ganz sanftmütig. Es wäre völlig wider ihre Natur, einen kleinen Jungen zu treten.«
Francis lauschte ihm mit gerunzelter Stirn. »Aber vielleicht ist das schwarze Einhorn über meinem Bett eine Ausnahme.«
»Nie und nimmer. Es ist unser Wappentier, Francis. Unser Freund.« Er zeigte auf seine eigenen Bettvorhänge. »Da, erkennst du’s? Lauter Einhörner. Sie beschützen uns und wachen über uns, während wir schlafen.«
»Kann ich heute Nacht nicht hier bei dir bleiben, Vater?«, brach es aus dem Jungen hervor, und die großen Augen sahen flehentlich zu ihm auf.
»Kommt nicht in Frage«, entgegnete Nick kategorisch. »Für solchen Unsinn bist du zu alt.«
»Aber deine Einhörner sind so schön klein«, argumentierte Francis. »Wenn du mir erlauben würdest, heute Nacht hier bei dir zu schlafen, könnte ich mich an die kleinen Einhörner gewöhnen, und dann könnte ich morgen Nacht bestimmt unter dem großen schlafen.«
»Francis. Ich habe dich nach Hause geholt, weil ich glaubte, du seiest groß genug, um dich wie ein Kerl zu benehmen.«
»Das bin ich«, beteuerte der Junge. »Ab morgen. Ich schwör’s. Aber du musst doch zugeben, dass deine Einhörner viel kleiner sind als meins.«
»Dem kann ich nicht widersprechen.«
»Dann musst du auch zugeben, dass es vernünftig wäre, mich erst an die kleinen zu gewöhnen, eh ich es mit dem großen aufnehme.«
»Tja, wie soll ich sagen …«
»Bittebittebitte, Vater.«
Unsicher schaute Nick ihm noch einen Moment in die Augen, dann hob er seufzend die Bettdecke. »Das hier ist eine Ausnahme«, stellte er mit Nachdruck klar.
»Natürlich.« Sein Sohn schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und legte sich hin.
Nick deckte ihn zu. »Ich meine, eine einmalige Ausnahme, Francis.«
»Ich weiß, Sir.« Er lächelte immer noch und machte die Augen zu.
Nick staunte einen Moment über die Länge und Dichte der Wimpern. Dann streckte er sich vorsichtig neben dem Knaben auf dem Rücken aus.
»Nacht, Vater.«
»Gute Nacht, Francis.«
Im Handumdrehen war der Junge eingeschlummert, und im Schlaf drehte er sich auf die Seite, tastete nach Nicks Arm, legte die Hand darauf und ließ sie dort.
Nick tat in dieser Nacht kaum ein Auge zu, und so hatte er reichlich Gelegenheit, seinen Sohn zu betrachten und sich zu fragen, was er wohl träumte.
Waringham, August 1542
Nick kam bei Nieselregen von einem zweiwöchigen Besuch in London zurück. Noch während er absaß, eilte Jacob aus dem Stall. »Willkommen daheim, Mylord.«
»Danke.« Nick reichte ihm die Zügel. »Reib ihn gut trocken.«
Respektvoll, aber ohne Furcht nahm der Stallbursche Esteban in Empfang. »Natürlich.«
»Und?«
»Der Müller liegt im Sterben, mein Bruder Adam und Davey Wheeler streiten um einen Bock und haben sich Sonntag nach der Kirche geprügelt, alle außer den Saddlers sind fertig mit der Aussaat vom Winterweizen, meine Frau hat Zwillinge bekommen – Gott steh mir bei –, Euer Sohn ist beim Training vom Pferd gefallen und hat sich den Knöchel verstaucht, aber sonst nichts getan, und Jerome Dudley ist seit gestern hier.«
»Allein oder mit seiner Gemahlin?«, fragte Nick.
»Allein, Mylord.«
Gott sei Dank, dachte Nick. Dann nickte er Jacob zu. »Ich schaue später in der Mühle vorbei. Der Steward wird sich um die Sache mit dem
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