Der dunkle Thron
Kerl. Fast unheimlich.«
»Es ist keineswegs so erstaunlich«, widersprach Nick und drehte versonnen das Weinglas zwischen den Fingern der Linken.
»Ah, da spricht der Experte mit dem reichhaltigen Erfahrungsschatz, was Kinder betrifft«, spöttelte Madog.
Nick schüttelte den Kopf, ohne auf die Provokation einzugehen. Er hatte natürlich keinerlei Erfahrung im Umgang mit Kindern, deren Aufzucht und Pflege ja auch nicht zu den Aufgaben eines Mannes gehörten. Die zwei Stunden, die er seinem Sohn nach dessen Ankunft gewidmet hatte, waren vermutlich die längste Zeitspanne, die sie je miteinander verbracht hatten. »Ich glaube, dass seine Mutter ihm eingeschärft hat, gefällig und höflich zu sein, damit ich ihn hierbehalte«, gestand er seinen beiden Freunden zögernd. »Wie er in Wirklichkeit ist, kann man vermutlich nur raten.«
»Nein, Nick«, widersprach Madog. »Er hat viel zu viel von dir, um arglistig genug für solch eine Komödie zu sein. Nichts Beflissenes ist an seiner Freundlichkeit.«
»Madog hat recht«, befand auch der Priester. »Dein Sohn ist einfach ein sonniges Kind.«
»Gebe Gott, dass ihr euch nicht irrt. Womöglich wären dann selbst meine bescheidenen Vaterqualitäten ausreichend …« Er wusste indes nicht, von wem der Junge das haben sollte, denn weder Polly noch er selbst hatten ein besonders sonniges Gemüt.
»Vielleicht wärst du genauso geworden, wenn deine Stiefmutter eine andere Frau gewesen wäre«, mutmaßte Madog, als hätte er Nicks Gedanken gelesen.
»Wart’s nur ab, morgen oder übermorgen wird er uns beweisen, dass er so unausstehlich sein kann wie alle anderen Kinder auch, und du wirst beruhigt sein«, prophezeite Simon. »Jedenfalls ist er aufgeweckt. Bestimmt ein guter Schüler.«
»Wenn er dich mit seinen Fragen nicht umbringt«, schränkte Nick ein, und sie tauschten ein Grinsen.
Als Nick einige Zeit später wieder einmal schlaflos im Bett lag, hörte er das leise Knarren der Tür und dann tapsende Schritte auf den Steinfliesen.
»Vater?« Es war ein klägliches Stimmchen, gefolgt von einem Schniefen.
Nick richtete sich auf. »Was ist los? Bist du krank?« Jesus, was tu ich, wenn er ›ja‹ sagt?
Er hatte den Bettvorhang offen gelassen, und als Francis nahe genug gekommen war, konnte Nick den Jungen mühelos erkennen: ein kleines Nachtgespenst in einem langen weißen Hemd, den Kopf gesenkt, sodass der blonde Schopf den Großteil des Gesichts verdeckte.
»Ich fürcht mich so.«
»Wovor?«
Statt zu antworten, schluchzte der Junge erstickt und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen.
Nick schwang die Beine aus dem Bett. »Hör auf zu flennen.« Es klang schärfer, als seine guten Vorsätze eigentlich gestatteten.
»Ich versuch’s«, beteuerte sein Sohn. »Aber es klappt nicht …«
Seufzend packte Nick ihn unter den Achseln und verfrachtete ihn neben sich auf die Bettkante. »Also. Was ist es, das dir Angst macht? Die fremde Umgebung?«
»Nein. Ich bin doch zu Hause.«
»Das Alleinsein in deiner Kammer? Das bist du nicht gewohnt, nehme ich an.«
»Vielleicht. Obwohl es viel schöner ist, eine Kammer ganz für sich zu haben und sie mit niemandem teilen zu müssen, der einem tote Frösche oder Brennnesseln unter die Decke legt.«
»Ja, ich kann mir vorstellen, dass man mit allerlei Überraschungen rechnen muss, wenn man ein Gemach mit Robin Dudley teilt. Also was ist es nun, das dich so beunruhigt?«
»Das Bett«, gestand Francis fast unhörbar.
»Das Bett?«, wiederholte Nick fassungslos. »Was in aller Welt stimmt nicht mit deinem Bett? Es ist mit Abstand das vornehmste in der ganzen Burg.«
Es stand in einem großzügigen, hellen Raum, dessen Fenster auf den Burghof wiesen. Das alte Bett aus dunkel gebeizter Eiche hatte einen Baldachin und Vorhänge aus schwerem grünen Tuch. Mit dem gleichen Stoff war das gewaltige Kopfteil bezogen, in welches das schwarze Einhorn der Waringham eingestickt war. Nick nahm an, dass die altehrwürdige Schlafstatt so manchen Lord Waringham beherbergt hatte.
»Aber das Einhorn am Kopfende sieht so gruselig aus, Vater …«
Nicks erster Impuls war, ihn auszulachen, aber er beherrschte sich. Gerade noch rechtzeitig war ihm eingefallen, dass er, als er etwa so alt wie Francis gewesen war, einmal in einer stürmischen Nacht aufgewacht war und einen Unhold gesehen hatte, der auf dem Schemel unter dem Fenster hockte. Nick hatte genau gesehen, wie er sich bewegte, und er hatte sich in den Arm gebissen, um nicht zu
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