Der dunkle Thron
gegessen. Ich bin ausgehungert, und Ihr führt uns immer weiter in die Irre, Hoheit.« Dann wies er auf den Fuß der Eibenhecke, die ihn um wenigstens zwei Ellen überragte. »Da, seht Ihr die drei Veilchen? Sie stehen in Reih und Glied wie Soldaten. Das hier ist die Stelle, wo wir schon waren, kein Zweifel.«
Die Siebzehnjährige ergriff lachend seine Hand und wandte sich nach links. »Also schön, Ihr habt recht«, räumte sie ein und lief los.
»Langsam, Hoheit«, mahnte Lady Margaret Pole. »Denkt daran, was der Doktor gesagt hat: Ihr dürft Euch nicht verausgaben.« Sie sprach mit liebevoller Sorge, aber ebenso mit Autorität. Margaret Pole war nicht nur Marys Patin und seit frühester Kindheit die Gouvernante der Prinzessin, sondern die einzige Frau in England, die aus eigenem Recht einen Adelstitel besaß: Sie war die Countess of Salisbury. Ihr Vater war der berüchtigte Duke of Clarence gewesen, wusste Nick, Bruder der beiden York-Könige. Ihr Großvater der nicht minder berüchtigte Königsmacher Richard Neville. Kurzum, Lady Margaret Pole war die vornehmste Dame in England – eine geborene Plantagenet.
Die Prinzessin ließ sich indessen vom ehrfurchtgebietenden Stammbaum ihrer Gouvernante nicht einschüchtern. »Ihr wollt nur verschnaufen, gebt’s zu, Lady Margaret«, neckte sie.
Die äußerst wohlgenährte Countess of Salisbury widersprach ihr nicht. Das zügige Tempo bei den Spaziergängen der Prinzessin brachte sie regelmäßig ins Schnaufen, und Nick fragte sich manchmal, warum sie eigentlich nie dünner wurde, obwohl sie Mary doch so oft begleitete.
Die Prinzessin lief weiter und hielt erst an, als sie die nächste Kreuzung erreichten. »Und nun?«, fragte sie Nick.
»Geradeaus«, antwortete er prompt. »Dann zweimal rechts, und schon kommen wir zum Ausgang.«
Langsamer, damit die arme Lady Margaret nicht in Ohnmacht fiel, aber immer noch Hand in Hand folgten sie seiner Wegbeschreibung, und er hatte sich nicht getäuscht: Als sie zum zweiten Mal rechts abbogen, konnten sie das Tor bereits sehen, und wenig später traten sie aus dem Zwielicht und der manchmal drückenden Stille zwischen den Eibenhecken in den windigen, sonnigen Frühlingstag hinaus.
Mary ließ Nicks Hand los, wandte sich ihm zu und knickste. »Ich muss Eure Orientierungsgabe bewundern, Mylord. Allein hätte ich gewiss noch eine Stunde gebraucht. Wie lernt man so etwas nur?«
Nick winkte ab. »Im Erlernen von Dingen bin ich nicht so gut wie Ihr. Ich nehme an, es ist angeboren.« Doch seit er häufiger in London und dort nicht selten in unbekannten Vierteln unterwegs war, hatte er diese Gabe sehr zu schätzen gelernt. Er verirrte sich niemals.
Mary zog die Schultern hoch und blickte nach Osten. Die Schatten vereinzelter Wolken zogen geschwind wie riesige unförmige Vögel über die Parkanlage des Palastes und die Felder und Weiden von Essex. Die Anhöhe, auf der sie Halt gemacht hatten, bot einen weiten Blick über das Umland, aber außer einem nahen Weiler gab es keinerlei Anzeichen von Menschen. Newhall, wohin der König seine Tochter verbannt hatte, lag wahrhaftig mitten im Nirgendwo.
Lady Margaret trat zu ihnen, breitete den wollenen Schal aus, den sie über dem Arm getragen hatte, und legte ihn der Prinzessin um die Schultern. »Lasst uns hineingehen, Hoheit«, riet sie. »Es ist noch zu kühl für Euch hier draußen.«
Nick konnte wieder einmal den Mund nicht halten. »Wenn die Prinzessin mehr an die frische Luft käme, wäre sie nicht so blass und hätte mehr Appetit.« Von Lebensfreude ganz zu schweigen. Er wusste, Mary war gern im Freien, jetzt im Frühling ganz besonders. Vom Reiten hielt sie nicht viel, aber sie lief jeden Tag zwei oder drei Meilen durch den weitläufigen Park – wenn man sie ließ.
»Wollt Ihr die Anordnungen des Leibarztes Ihrer Majestät der Königin infrage stellen?«, erkundigte Lady Margaret sich schneidend.
Nick war es nicht neu, dass sie ihn nicht sonderlich mochte. »Da seine Anordnungen so offensichtlich erfolglos sind, ja, Madam«, antwortete er kaum weniger frostig.
Es hatte ihn erschreckt, wie blass und dünn er Mary vorgefunden hatte. Natürlich hatte er gewusst, dass sie krank gewesen war und drei Wochen lang praktisch keinen Bissen hatte zu sich nehmen können, aber das war schon Monate her.
»Werdet ihr wohl aufhören, über meinen Kopf hinweg zu streiten, als wäre ich ein krankes Schaf?«, schalt sie. Es klang amüsiert, aber ihre Stirn war ein wenig gerunzelt. »Im
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