Der Dunkle Turm 2 - Drei
unter anderen Umständen (wenn der Narr nicht eine Flinte in einen Laden geschossen hätte, der noch voll unschuldiger Menschen sein konnte) Mitleid mit ihm gehabt. Wenn man innerhalb einer halben Stunde zweimal eine auf den Schädel gebrannt bekam, durfte man mit etwas Gehirnkuddelmuddel rechnen.
Als Delevan wie ein Sack zu Boden stürzte, nahm ihm Roland die Schrotflinte aus den erschlaffenden Händen.
»Keine Bewegung!« schrie O’Mearah, und seine Stimme war eine Mischung aus Zorn und Fassungslosigkeit. Er hob Fat Johnnys Magnum, aber es war, wie Roland vermutet hatte: Die Revolvermänner dieser Welt waren bemitleidenswert langsam. Er hätte O’Mearah dreimal erschießen können, aber dafür bestand keine Veranlassung. Er schwang die Schrotflinte einfach in einem weiten Bogen aufwärts. Man hörte ein lautes Klatschen, als der Kolben gegen O’Mearahs linke Wange prallte, das Geräusch eines Baseballhandschuhs, der eine echte Granate von einem Schlag auffängt. O’Mearahs gesamtes Gesicht rutschte plötzlich von der Wange abwärts zwei Zentimeter nach rechts. Es erforderte drei Operationen und vier Stahlklammern, um ihn wieder richtig hinzubekommen. Er stand einen Augenblick ungläubig da, dann verdrehte er die Augen, daß nur noch das Weiße zu sehen war. Seine Knie gaben nach, und er brach zusammen.
Roland stand unter der Tür und achtete gar nicht auf die näherkommenden Sirenen. Er knickte die Schrotflinte, dann riß er am Ladegriff und ließ sämtliche roten Patronen auf Delevans Körper regnen. Nachdem er das getan hatte, warf er die Waffe selbst auf Delevan.
»Du bist ein gemeingefährlicher Narr, den man nach Westen schicken sollte«, sagte er zu dem bewußtlosen Mann. »Du hast das Antlitz deines Vaters vergessen.«
Er stieg über den Körper hinweg und ging zur Kutsche der Revolvermänner, die noch müßig draußen stand. Er stieg zur gegenüberliegenden Tür ein und nahm hinter dem Lenkrad Platz.
8
Kannst du mit dieser Kutsche fahren? fragte er das kreischende, schlotternde Ding, das Jack Mort war.
Er bekam keine zusammenhängende Antwort; Mort schrie einfach immer weiter. Das erkannte der Revolvermann als Hysterie, aber eine, die nicht durch und durch echt war. Jack Mort hatte absichtlich einen hysterischen Anfall, damit er einer Unterhaltung mit seinem unheimlichen Entführer aus dem Weg gehen konnte.
Hör zu, sagte der Revolvermann zu ihm. Ich habe nur Zeit, dies einmal zu sagen – und alles andere auch. Meine Zeit ist sehr knapp geworden. Wenn du meine Fragen nicht beantwortest, stoße ich dir den rechten Daumen in dein rechtes Auge. Ich stoße ihn so weit hinein, wie ich kann, und dann ziehe ich dir den Augapfel aus dem Kopf und wische ihn wie Rotz am Sitz dieser Kutsche ab. Ich komme mit einem Auge sehr gut zurecht. Und außerdem ist es ja nicht so, daß es meines wäre.
Er hätte Mort ebensowenig anlügen können wie Mort ihn; die Natur ihrer Beziehung war auf beiden Seiten kalt und widerwillig, aber dennoch intimer, als es der leidenschaftlichste Akt von Geschlechtsverkehr jemals hätte sein können. Immerhin waren hier keine Körper vereinigt, sondern Seelen.
Was er gesagt hatte, war sein völliger Ernst.
Und Mort wußte es.
Die Hysterie hörte unvermittelt auf. Ich kann fahren, sagte Mort. Es war die erste sinnvolle Kommunikation mit dem Mann, seit Roland in seinem Kopf angekommen war.
Dann fahr.
Wohin soll ich fahren?
Kennst du einen Ort, der ›Village‹ genannt wird?
Ja.
Dorthin.
Wo im Village?
Vorerst genügt es, wenn du fährst.
Wenn ich die Sirene benütze, kommen wir schneller voran.
Fein. Schalt sie ein. Und das Blinklicht auch.
Roland zog sich zum erstenmal, seit er Kontrolle über ihn erlangt hatte, ein wenig zurück und gestattete Mort, wieder zu übernehmen. Als Mort den Kopf drehte, um das Armaturenbrett von Delevans und O’Mearahs Streifenwagen zu studieren, verfolgte Roland die Drehung, löste sie aber nicht aus. Aber hätte er ein stoffliches Wesen gehabt, nicht nur sein eigenes körperloses Ka, dann hätte er auf Zehenspitzen gestanden und wäre bereit gewesen, jederzeit wieder nach vorne zu springen und beim geringsten Anzeichen von Meuterei die Kontrolle wieder zu übernehmen.
Aber dazu kam es nicht. Dieser Mann hatte weiß Gott wie viele unschuldige Menschen getötet und verkrüppelt, aber er wollte keines seiner eigenen kostbaren Augen verlieren. Er drückte Knöpfe und zog einen Hebel, und plötzlich waren sie in Bewegung. Die
Weitere Kostenlose Bücher